1911
Gibt es eine schweizerische Nationalkunst?
In: Süddeutsche Monatshefte, München, August.
Seit den Tagen Hans Holbeins des Jüngeren bis in unsere jüngste Gegenwart hinein hat es der Schweiz nie an guten und selten an bedeutenden Künstlern gefehlt. Und in den letzten zwanzig Jahren gar, da errangen sich die Schweizerkünstler an den grossen internationalen Ausstellungen eine achtunggebietende Stellung – Böcklin, Segantini, Hodler gelten heute nicht mehr als schweizerische Maler, sondern werden als Meister von internationaler Bedeutung anerkannt. Dabei drängen sich ihnen eine ganze Menge anderer junger Künstler nach; die Schweizerkunst ist so recht in eine Periode eigentlicher Renaissance eingetreten und dehnt und reckt sich mächtig und selbstsicher. Da nun durch die meisten Werke der schweizerischen Künstler trotz aller Verschiedenheit ihrer Auffassungs-und Schaffensweise ein herber Einheitszug sich zieht, so beginnt man im Ausland von einer schweizerischen Nationalkunst zu sprechen, wenn nicht gar eine solche als etwas Gegebenes vorauszusetzen. Was nämlich ausserhalb der schweizerischen Landesmarken als das spezifisch Schweizerische empfunden wird, das sucht der Fernerstehende aus dem nationalen Gefühle abzuleiten und irrt sich.
Zu einer nationalen Kunst gehört vor allem ein seit langer Zeit ausgebildetes Bewusstsein organischer Zusammengehörigkeit auf kulturellem Gebiete, ein meinetwegen unklarer Wille zu einem nationalen Einheitsziel, welches im letzten Grunde in der patriotischen Apotheose ausmündet; dazu gehört ferner eine traditionelle Lebens- und Ideengemeinschaft, eine Ein- und Unterordnung der einzelnen künstlerischen Potenzen in das Gefüge eines von der Nation anerkannten Schönheitsideales.
Die Schweizerkünstler jedoch sind gegenüber ihrem Volke Outsider, sind Individualisten und Sonderbündler, und wenn sie auch im leben nicht immer ausserhalb des Volkes stehen, so sind sie doch von dessen Psyche in der Regel unbeeinflusst. Dass dem so ist, wird niemand verwundern, der mit schweizerischen Verhältnissen vertraut ist. Denn erstens gibt es keine schweizerische Rasse im Temperamentssinne des Wortes, und die wäre doch für ein nationales künstlerisches Schaffen vorbedingend. Die Schweiz setzt sich aus fünfundzwanzig Einzelstaaten, drei bis vier Sprachgebieten, zwei Konfessionsdomänen und aus etlichen Dutzenden verschiedener Stämme zusammen, welche wohl, aneinander gewöhnt, sich gegenseitig abgeschliffen, aber nie vollständig assimiliert haben. Daraus ergab sich logischerweise eine absolute Dezentralisation der Kultur, und wirklich ist die Sonderkultur Basels verschieden von der Zürichs oder Genfs und diese wiederum von der hohen Bauernkultur des agrarischen Bern. Jeder Stamm ist für sich mehr oder weniger rassig geblieben, zwar nur insofern, als er seine Sondertradition nicht preisgab, aber von einer allgemeinen Schweizerkultur wird erst dann die Rede sein können, wenn der Kantonalismus aus dem letzten Löchlein gepfiffen haben wird und die nivellierenden und vorläufig rein zentralistisch-bureaukratischen Einflüsse sich als Nationalbewusstsein stabilisiert haben werden. Dann aber wird von einer schweizerischen Nationalkunst vielleicht erst recht nicht mehr die Rede sein können, weil die Grundbedingung zu jeder künstlerischen Produktion, nämlich das Temperament, in dem Wust der Verallgemeinerung untergegangen sein wird. Gott behüte die Schweiz vor der ein- und unteilbaren Helvetik auf Kulturellem und künstlerischem Gebiete, denn diese würde nichts mehr und nichts weniger bedeuten als schlechte, weil traditionslose Akademie !
Die Sonderkulturen der einzelnen Landesgegenden, ob sie nun historisch und politisch gegliedert seien oder nicht, haben aber noch einen andern Einfluss auf die Entwicklung der Künste in der Schweiz zur Folge gehabt. Während Bern und der grosse Teil der Westschweiz seit Franz I. mit Paris und seiner Kultur in enger Fühlung standen, tendierte die übrige Schweiz deutscher Zunge eher nach einer Kulturgemeinschaft mit Deutschland, und das italienische Graubünden sowie der Kanton Tessin in seiner heutigen Gestalt mit Italien. Es hätte sonderbar zugehen müssen, hätte nicht die Kultur der umliegenden Staaten, mit welchen die Schweizer in näheren Kontakt traten, auf sie abgefärbt. Besonders wenn man noch das psychologische Moment in Betracht zieht, dass der nachahmungstrieb und die Assimilationsfähigkeit des Schweizervolkes umso grösser, als die Bedingungen zur Schaffung einer eigenen Nationalkultur unbedeutender waren. So lässt sich erklären, warum Frankreich vor allen, dann aber auch Deutschland und Italien ungemein nachhaltig auf die schweizerische Kunst einwirkten. Während der französische Geschmack in der Schweiz durch das ganze siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert vorherrschend war, sehen wir ihn seinen Einfluss im neunzehnten verlieren, und erst in der letzten Zeit sehen wir wiederum die jungen Schweizerkünstler ihre Kunstanschauungen mehr als früher in Paris befestigen. Vor dreissig oder vierzig Jahren waren Düsseldorf und München Trumpf. Es liesse sich darüber mancherlei sagen, besonders, wenn man boshaft genug wäre, den unbestreitbar bestehenden Zusammenhang zwischen der Machtverschiebung der europäischen Grossstaaten und der Tendenz der Schweiz sich diesen Machtverschiebungen auch auf kulturellem Gebiete anzupassen, recht augenfällig hervorzuheben ! Tatsache ist, dass die Schweizer jeweilen das Schönheitsideal zu dem ihrigen machten, welches gerade das des momentan mächtigsten ihrer Nachbarn war. Der offizielle Begriff der Kunst in der Schweiz war jeweilen von den weltpolitischen Ereignissen abhängig und zu ihrem Lobe kann nur das eine gesagt werden, der Prozess vollzog sich jeweilen unwillkürlich. Die Tellensöhne sind eben anpassungsfähig und liefern die besten Portiers und Oberkellner.
Die Frage, welche Stellung das Schweizervolk zu seiner Kunst einnehme, ist durch obige Feststellungen bereits zur Hälfte beantwortet. Das Volk nimmt zu der Kunst überhaupt keine Stellung ein, einmal weil ihm kein nationales Ideal vorschwebt und zum andern, weil es kritiklos ist. Ein Volk, welches, wie das schweizerische, ein armes Volk ist, hat näherliegende Interessen als die einer überlegten Kunstpflege zu verfolgen. Es wird durch seine Armut vor allen Dingen auf die Bahnen des möglichst einträglichen Erwerbes gedrängt und der Seelenzustand, welcher sich aus den Nahrungssorgen entwickelt, ist für die Kunst nicht von Vorteil. Zum andern ist jeder Schweizer eine kleine Autorität. Er fühlt sich als geborener Demokrat erhaben über alle Menschen, denen nicht ein gütiges Geschick das politische Selbstbestimmungsrecht in die Wiege legte. Weil er von seinem zwanzigsten Lebensjahr an aktiv die Geschicke seines Landes mitbestimmen hilft und bis jetzt das Land darob nicht zugrunde ging, so leitet sich der Normalschweizer auf allen Gebieten, auch auf kulturellen und künstlerischen, die unglaublichsten Kompetenzen ab. Er tritt der Kunst als Despot gegenüber, das heisst, er verzichtet von vorneherein gerade auf das, was die Kunst für ihn zu einem höheren Werte gestalten könnte. Dieses naive demokratische Selbstbewusstsein des Normalschweizers, dessen Karikatur uns Gottfried Keller an jenem Sonntagnachmittag seines Martin Salander vor Augen führt, verschliesst ihm die Sinne gegenüber der Arbeit, welche in jeder Kunstanstrengung steckt. Sein Selbstbewusstsein verbietet ihm, anderwärts Umschau über das Geleistete zu halten, er braucht keine vergleichenden Massstäbe und will keine haben.
Daher hört man nirgends so häufig wie in der Schweiz das Wort: „Die Kunst soll….“ und dann folgt irgendeine monumentale Dummheit. Die Kunst soll erziehen, soll das demokratische Bewusstsein stärken, soll Talmi- und wirkliche Grössen verherrlichen, soll die gerade herrschende Mode unterstützen, soll mit einem Wort ein nützliches Glied der Eidgenossenschaft werden. Nur eines wird man dem Schweizer nie plausibel machen, nämlich dass die Kunst vor allen Dingen nicht sollen soll. Weil nun das Volk nichts von dem allem sieht, was auf künstlerischem Gebiet ausserhalb der Landesgrenzen geschaffen wird, und weil es ein demokratischer Despot ist, der sich dennoch anmasst, die Kunst seinen Zwecken dienstbar zu machen, so ergibt sich daraus seine Stellung zu den Künstlern. Der Künstler, will er sich der Gunst der Masse erfreuen, muss zu ihr herabsteigen, denn die Masse ist zu erhaben, um sich von ihm emporbilden zu lassen.
Wenn es zutreffen sollte, dass die Kritik eines Landes den Gradmesser für seine Stellung zu der Kunst bildet, dann würden meine Behauptungen bekräftigt, wenn wir die Qualität der schweizerischen Kunstkritik ins Auge fassen. In der Schweiz schreibt jeder Reporter über Kunst. Abgesehen von einem halben Dutzend beruflicher Kritiker ist die schweizerische Kunstkritik belanglos. Sie ist weniger nationalistisch als demagogisch, und wo sie sich einmal nationalistische Allüren zulegt, geschieht es, um irgend eine Mittelmässigkeit auf den Schild zu erheben. Der schweizerische Kritiker ist vor allen Dingen demokratisch, weiss also alles a priori schon viel besser als der, der mit Müh und Not gelernt hat. Die Mehrzahl der schweizerischen Kunstreporter haben ebenso wenig wie die breite Masse vergleichende Massstäbe. Sie sehen nichts von dem, was anderwärts gemacht wird, und wenn sie es post festum sehen, dann ist es für sie zu spät. Nichts ist kläglicher als die Unsicherheit des Urteils der schweizerischen Kunstreporter, die sich umso martialer gebärden, je unsicherer sie sich fühlen. Wir werden später sehen, dass alle diese meistens jungen Herren ihre Urteile in unglaublich kurzer Zeit zu rektifizieren genötigt sind, und sie tun es ohne Scham noch Reue, wenn nur einmal die eigentlich Massgebenden jenseits des Rheines und des Doubs gesprochen haben. Man braucht sich dabei nur zu vergegenwärtigen, wie dieselben Leute über Böcklin und Hodler schrieben, als die beiden ihre besten Werke zwar schon geschaffen hatten, aber vom Auslande noch nicht anerkannt waren und wie sie heute sich gebärden, als wären sie die Bahnbrecher dieser Künstler gewesen. Vor zwanzig Jahren war ihre Wertbemessung auf den Akkord gestimmt: „Hodler ein grosser Kerl ? Dummes Zeug, wir waren ja Schulkameraden !“
Und die offizielle Kunstpflege ? Sie ist so, wie sie unter solchen Umständen sein kann. In einem Staate, wo jeder einzelne Bürger an den Landesgeschicken lenken hilft, wo jeder Feldmauser und jeder Feueraufseher durch des Volkes Mehrheit in seinem Amte bestätigt wird, wird jeder Feueraufseher und jeder Feldmauser aus Gründen der Selbsterhaltung auch in Geschmackssachen die Ansichten seines Brotgebers zu den seinigen machen.
Es ergibt sich, dass für den bildenden Künstler der Schweizerboden ein harter Boden ist und dessen freue ich mich, denn er zwingt den Einzelnen zur selbständigen Entfaltung seiner Kräfte. Nirgends vielleicht wie in der Schweiz bleibt der freien Entfaltung künstlerischer Individualitäten soviel Spielraum, denn nirgends wie dort wird der Künstler weniger von der Konvention beeinflusst. Die Entwicklung zur Meisterschaft setzt dort ein alles überwindendes Wollen voraus, und darum bildet sich eine Selektion wirklicher Temperamente; darum haben sich auf Schweizerboden so verschieden geartete Künstler wie Böcklin, Segantini, Welti, Hodler, Rodo von Niederhäusern zur Meisterschaft durchgerungen.
Dem werdenden Schweizerkünstler, der ausser sich selbst keine Förderung zu erwarten hat, kann nur seine Vision massgebend sein, und darum bleibt er rechtschaffen in seiner Kunst, einfach in seiner Auffassung und schafft Synthesen. Jeder bedeutende SchweizerkünstLer hat sozusagen als Selfmademan seine Kunst erfinden müssen, darum beherrscht er sie. Er ist nicht national in seiner Kunst, aber autochthon. Darin besteht der Einheitszug der Schweizerkünstler. Es sind deren gegenwärtig viele. Sie bilden zusammen eine Phalanx, der sie ohne weiteres als Schweizer erkennen lässt. Einige von ihnen haben im Auslande Anerkennung, ja Bewunderung gefunden. Diesen zollt auch die Schweiz den Tribut schuldiger Verehrung. Aber nicht aus nationalen Gründen, denn der Schweizer, der heute begeistert lobt was er gestern ebenso begeistert schmähte, ist nicht überzeugt, sondern überwunden und beugt sich nicht vor der Kraft, sondern vor dem Erfolge.
In dieser Beschaffenheit der schweizerischen Künstlerschaft sehe ich die Garantie gegen eine schweizerische nationale Kunst. Der harte Schweizerboden wird auch fernerhin grosse Künstler zeitigen, aber keine offiziellen.