1908
Schülerselbstmorde
In der: Berner Tagwacht, Bern, Nr.196, 23.8.
Die letzten, noch in aller Erinnerung stehenden Schülerselbstmorde in deutschen Gymnasien haben die Frage der vernünftigen Reorganisation dieser Lehranstalten wieder in den Vordergrund gerückt. Mit vollem Rechte wurde den Gymnasien der Vorwurf gemacht, sie überlasten ihre Schüler und züchteten einen falschen, im gegebenen Falle lebensverneinenden Ehrbegriff, welcher im letzten Grunde als die Hauptursache der Schülerselbstmorde zu betrachten sei. Daran ist nicht zu zweifeln, allein die Eltern selbst vermöchten da den Widersinn des Schulmeistergeistes gar oft zu korrigieren. Sie tun es nicht, sondern fühlten sich selbst entehrt, würde der Junge durch das Examen fallen. Und das ist das Schlimme und logisch Unhaltbare. Denn die Examen beweisen für die Fähigkeiten des Examinanden so gut wie nichts. Höchstens zeugen sie von mehr oder weniger geschärftem Gedächtnis und vor allen Dingen zeugen sie nicht vom Wissen, insofern man darunter (und mir scheint, man müsste das) das geistig erworbene und nicht bloss ad hoc geborgte Inventar versteht. Nun werden aber die Schüler der höheren und Mittelschulen, vielmehr als die der Volksschulen, nach den Resultaten der Examen eingeschätzt, und darin liegt der verhängnisvolle Irrtum und auch die Erklärung dafür, dass die Schule wirkliche Begabung, eigentliche Tüchtigkeit, angebornes Talent, von Genie gar nicht zu reden, in den seltensten Fällen vorgeahnt und anerkannt hat. Ich verweise dabei auf die aller Welt bekannten Schulbeispiele von Linné, Walter Scott, und von den unter uns Lebenden, Ludwig Thoma.
Alle waren im Sinne der Scholarchen schlechte Schüler (die Liste liesse sich übrigens um ein Erkleckliches vermehren), und keinen unter den Leuten von gutem Geschmack und feiner Bildung habe ich noch kennen gelernt, der nicht, wenigstens einmal im Leben, die Schule verflucht hätte.
Weil sie lebensverneinend ist, züchtet sie Selbstmörder. Das ist es ! Weil ihr der Wille und die Lust am Geschehen und Gestalten fehlt, weil sie nicht einzusehen vermag, dass es eine Entwicklung geben könnte, die ausserhalb eines ausgeklügelten Programmes läge, darum ist sie lebensverneinend, ledern, knöchern, tot, und wer ihr verfällt, muss logischerweise das Leben verneinen. Es zeugt immerhin noch von einem schönen Überschuss von Lebenskraft unserer Jugend, dass alljährlich eine grosse Zahl junger Leute ohne Lebensgefahr durch das Examen gehen und sich keine Kugel durch den Kopf schiessen. Das ist eigentlich ein Wunder, denn die Schuld der Schule, dass dem so ist, ist es gewiss nicht. Von Rechts wegen müsste alles in ihr zum Tode drängen, und wer die Schule übersteht, der beweist damit eigentlich nichts anderes, als eine schulwidrige Lebenskraft, welche ihm zu rauben ihr nicht ganz, sondern nur teilweise gelang.
Der Selbstmord an sich nämlich ist ein Kriterium der Un- oder besser der Halbbildung. Ein wahrhaft gebildeter Mensch vermag das Leben zu ertragen, wie es auch sei. Denn der wahrhaft Gebildete schöpft neuen Lebensgeist und Lebenslohn aus seinem Wissen, nur der unklare und unfertige Kopf vermag der Erkenntnis Last nicht zu tragen oder sich nicht zur klaren Erkenntnis durchzuringen. Die Schülerselbstmorde sind für mich der fürchterlichste Beweis, dass die Schule das gerade Gegenteil einer Bildungsanstalt ist, da sie doch abstrakte Bildungsscheinwerte an Stelle der natürlichen Lebenskraft stellt. Und so bleibt uns nur die eine magere Hoffnung, nämlich, dass die sich stets vermehrenden Schülerselbstmorde endlich zum Selbstmord der Schule führen werden. Und diesen plötzlichen Hinscheid werden nur die amtlich abgestempelten Bildungsträger von Zunftes Gnaden bedauern, weil er sie brotlos macht und vielleicht dazu zwingen wird, ihr Brot auf dem verwandten Gebiete der Scharfrichterei zu suchen.