1913
Ausschnitte aus Schule und Leben
In: Schule und Leben
Gestatten Sie mir zunächst das ehrliche Bekenntnis, daß ich ihr grundsätzlicher Gegner bin. Ihr grundsätzlicher Gegner aus hygienischen, pädagogischen und praktischen Gründen!
Aus hygienischen Gründen! Ich halte dafür, daß die Schulzeit reichlich genug bemessen ist, um den Geist des heranwachsenden Kindes dermaßen in Anspruch zu nehmen, daß ein Mehr zu Hause ein Zuviel bedeutet. Ich glaube, daß zur gesunden und harmonischen Geistes- und Körperausbildung eine rationelle Verteilung geistiger und körperlicher Kräfteübungen gehört. Daß bei einseitiger Beschäftigung des Geistes der Körper und rückwirkend auch die Entwicklung des Geistes geschmälert wird.
Ich glaube ferner, daß der staatlich vorgeschriebene Unterrichtsplan für unsere bernischen Primarschulen nicht dermaßen überlastet ist, daß seine Bewältigung innerhalb der Schulzeit ausserhalb dem Bereiche der Möglichkeit läge, und halte dafür, daß das körperlich gesunde und arbeitstüchtige Kind für die Schule und seine geistige Ausbildung nichts durch den engen Umgang mit der Natur und mit der praktischen körperlichen Ausgabe zu verlieren, wohl aber sehr viel zu gewinnen hat.
Meine Überzeugung sagt mir im weitern, daß normalerweise die geistige Arbeit dem Körper und die körperliche Arbeit dem Geiste Erholung bieten solle, anders auf keinem Gebiete tüchtig gearbeitet werden kann.
Denn nutzbringende und fruchtbare Arbeit ist keine Fron, sondern soll ein Ausruhen und Kräftesammeln der gerade nicht an ihr beteiligten Fähigkeiten bedeuten, anders sie Danaidenstrafe ist!
Gestatten Sie nun, daß ich auf Einzelheiten des Schulbetriebes eingehe! Sprechen wir zunächst von den drei ersten Schuljahren! Im ersten Schuljahr muß ein Minimum von Stoff bewältigt werden. Die Hauptaufgabe der Lehrerin wird jedoch vor allem darin bestehen, die kleine, bisher ungebundene Schar für die erst in ferneren Jahren einsetzende Schuldisziplin vorzubereiten. Jedermann, der Kinder kennt und beobachtet, weiß, daß dies allein schon eine ganz erkleckliche Aufgabe ist, besonders wenn die Kinderzahl groß ist, wie dies im Kanton Bern in den Elementarklassen häufiger, als es eigentlich sein sollte, der Fall ist.
Der Unterricht der Elementarstufe ist demnach ein Übergang von kinderverträumtem Tändeln zu pflichtbewußter Arbeit. Er schlägt eine Brücke zwischen dem Hang zum Spiele und dem Arbeitsgewissen, dem Unbewußtsein kindlichen Tandes und dem Schaffensbewußtsein zweck- und absichtsbewußter Arbeitsmenschen.
Je sanfter dieser Übergang stattfindet, je weniger gewaltsame Erschütterungen das einzelne Kind ob diesem Prozesse erleidet, je sicherer wird der Zweck erreicht. Das bisher zwecklose Spiel, die planlose Betätigung des Kindes, muß allgemach und fast unmerklich in die Bahn bewußter Arbeit geleitet werden. Dem Takte der jeweiligen Lehrkraft bleibt es vorbehalten, die zarten Fäden des angeborenen Betätigungstriebes zum Gewebe einsichtsvoller und zielbewußter Arbeit auszuspinnen oder sie zu zerreißen. Fürs erstere scheint mir die zeitliche Beschränkung geistiger Arbeit die unumgänglichste Vorbedingung zu sein. Um den Geist zu disziplinieren, darf er vor allem nicht übermüdet werden. Die Gehirndisziplin, welche in Aufmerksamkeit und Fassungsvermögen besteht und in selbstbewußter Arbeit und fleißiger Anteilnahme am Unterrichtsstoff ausmündet, setzt die absolute Frische, die Jungfräulichkeit des Kindergehirns voraus. Dieses Gehirn ist einer unglaublichen Spannkraft fähig, wenn es seinen Kräften angemessen belastet und nicht betäubt wird.
Es wird aber vielfach betäubt, und zwar gerade in den ersten, kritischen Elementarschuljahren. Durch allerlei Plackereien, deren Aufzählung ich mir auf ein andermal verspare, von denen der vornehmsten eine jedoch die Hausaufgaben sind. Jawohl, ich halte die Hausaufgaben bis ins dritte Schuljahr für ein direktes Verbrechen an der geistigen Entwicklungsmöglichkeit der Kinder. Sie sind, Gott sei’s geklagt, an vielen Schulen gang und gäbe, und man entschuldigt sich damit, daß es eben bei der großen Kinderzahl nicht möglich sei, ohne Hausaufgaben das vom Staate vorgeschriebene Lehrpensum abzuwickeln. Worauf ich ergebenst erwidere, daß in ebensovielen Schulen, welche keine Aufgaben erteilen, das Pensum abgewickelt wird, ohne daß sich im weiteren Bildungsgange der Schüler ein bemerkenswertes Vorbildungsmanko herausstellt.
Das sechs- bis neunjährige Kind, welches im Sommer drei bis vier und im Winter vier bis sechs Stunden täglich auf den Schulbänken herumrutscht, hat das Recht, seine übrige Zeit seinem körperlichen Wohlergehen, sei es leichter körperlicher Arbeit oder dem Spiele zu widmen.
Um so mehr als die Bedingungen, unter welchen namentlich schriftliche Hausaufgaben von den Kleinen zu Hause gemacht werden müssen, in der Regel höchst unhygienische sind.
Bedenken die Lehrerinnen auch, in welcher Körperhaltung und bei welcher Beleuchtung, in welcher Umgebung oft die Hausaufgaben gemacht werden müssen? Bedenken sie, daß die Kurzsichtigkeit, die Engbrüstigkeit und die Erschlaffung sehr oft durch schriftliche Hausaufgaben recht eigentlich gezüchtet werden? Bedenken sie, wieviel Zeit sie gerade den schwach begabten Kindern mit den Hausaufgaben entziehen, welche viel besser an der freien Luft, zur Entwicklung der Atmungsorgane verwendet würde?
Ist ihnen noch nie aufgefallen, daß die schulfeindlichsten und schulmüdesten Kinder immer gerade die sind, welche mit Hausaufgaben gequält werden? Daß, was an Quantität durch die Hausaufgaben mehr geleistet wird, an geistiger Frische und Aufmerksamkeit während des eigentlichen Unterrichts doppelt und dreifach verlorengeht.
Und bedenken sie auch, daß es ein Eingriff in die Rechte der Eltern ist, ihre Kinder außerhalb der Schule, zu Hause in einer Art zu beschäftigen, welche weder den hygienischen noch den pädagogischen Absichten der Eltern notwendigerweise entspricht?
Und bedenken sie auch, daß es als ein Eingriff in die elterliche Gewalt vom einfachen Mann aus dem Volke empfunden wird, der nicht an spitzfindige Gedankengänge gewöhnt ist und als Mensch, der inmitten des harten, realen Lebens steht, sich angesichts der Überbürdung seiner Kleinen sagen muß: zu was denn eigentlich die lange neunjährige Schulzeit gut sei, wenn deren Arbeit denn doch noch zu Hause bewältigt werden müsse?
Die Schulfreundlichkeit im Volke wird dadurch gewiß in keiner Weise gefördert, und doch ist es die Lehrerschaft, welche, und zwar mit Recht, mehr Interesse des Verstandes und des Herzens für unsere Volksschule fordert! Ich bin der letzte, der dieser Forderung entgegentreten würde, allein, ich wünschte, daß der Schulbetrieb derart gestaltet würde, daß er unter Erwachsenen mehr Schulfreudigkeit aufkommen ließe, als dies vielerorts leider der Fall ist.
Im Namen der Humanität, welche ich auch auf die Kinder ausgedehnt sehen will, protestiere ich gegen den sträflichen Mißbrauch der Hausaufgaben auch in rein moralischer Hinsicht. Ist es denn nötig, daß dem Kinde seine Jugendfreude, das bißchen Kindesalter durch den stets drohenden Schulbackel verdorben und getrübt werde? Ist es nicht eine Grausamkeit, Hausaufgaben über die freien halben Tage, über die Sonn- und Feiertage, ja über die Ferien zu verhängen? Muß denn das Kind vom sechsten Jahre an in dem drückenden Bewußtsein auferzogen werden, daß ihm kein Augenblick der an ihm so rasch vorbeieilenden Jugendzeit mehr ganz gehöre?
Als äußerster Notbehelf und als Disziplinarstrafe lasse ich die Hausaufgaben am Ende gelten. Aber dann so, daß sie nützen undnicht schaden, daß sie fördern und nicht verdummen, daß sie wecken und nicht einlullen!
Meines Erachtens dürfte den Kindern der ersten drei Schuljahre überhaupt keine schriftliche Hausaufgabe erteilt werden und die Hausaufgaben müßten so bemessen sein, daß sie jedes, auch das am wenigsten begabte Kind, in nicht mehr denn einer halben Stunde täglich zu erledigen vermöchte.
Und für die weiteren sechs Schuljahre sollte darauf Bedacht genommen werden, daß die Hausaufgaben ein Kind höchstens eine Stunde des Tages beanspruchten, wobei für alle Klassen Aufgaben über freie Nachmittage, Sonn- und Feiertage, namentlich aber auch über die Ferien streng zu untersagen wären.
Denn das Kind ist kein Automat, in welchen man oben Gelehrsamkeit eingießt, damit unten Wissen herauskomme!
[…]
RELIGIONS- ODER MORALUNTERRICHT?
Kurz nach dem Erscheinen meiner jüngsten Broschüre Ist die Schweiz regenerationsbedürftig? schrieb mir ein alter, in bernischen Schulkreisen wohlbekannter und geachteter Herr, der ein langes Menschenleben dem bernischen Schuldienste widmete, einen Brief, aus welchem ich einige Sätze, gewissermaßen als Motto, den folgenden Ausführungen voranstellen möchte.
Er schreibt: «Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich hiermit an Sie schreibe, da Sie mir persönlich unbekannt sind. Ihre Schrift über die ‹regenerationsbedürftige Schweiz› kenne ich nur aus einem Referate des … Tagblattes. Sie haben viel Richtiges gesagt. Aber der Hauptmangel Ihrer Schrift besteht darin, daß Sie die Haupterziehungsanstalt, die Kirche, ganz unberührt lassen und daß Sie nicht sagen, daß die Schule immer noch im Bann der rückständigen Kirche steht. Dies bezieht sich auf den Religionsunterricht. Ich möchte wünschen, daß Sie die kirchliche Frage studieren. Die Schulreform hängt damit zusammen …»
Und in einem späteren Briefe schreibt er u. a.: «Der große Fehler der Kirche besteht darin, daß sie hartnäckig an der Tradition festhält und die Lehren der Bischöfe aus dem 3., 4. und 5. Jahrhundert dem Volke des 20.Jahrhunderts aufzwingen will, trotz der fortgeschrittenen Welterkenntnis, und daß sie dadurch die Lehre Jesu selber fälscht. Und das Vergehen des Staates besteht darin, daß er eine solche unwahre Kirchenlehre bezahlt und die Schule in ihren Dienst stellt. Dadurch wird das Volk für das Jenseits erzogen, das nicht existiert, und daher kommt die Gleichgültigkeit gegen das Diesseits, die sich in den Abstimmungen zeigt. Frankreich hat den Religionsunterricht der Schule schon seit dreißig Jahren beseitigt und ersetzt durch den Moralunterricht, und die guten Folgen sind: 1.Weniger Fälle der Kriminalität der Jugend. 2.Abnahme der Verlogenheit der Jugend. 3. Größere Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten!
Die Trennung des Staates und der Schule von der Kirche hat sich auch in Nordamerika (Union) bewährt, seit 140 Jahren!»
Ich muß gestehen, dieses kategorische Bekenntnis eines abgeklärten und vielerfahrenen Greises, der viele Jahrzehnte hindurch als Lehrer und Inspektor an unserer Volksschule mitgearbeitet hat und dessen hohe Jahre ihn über den Verdacht kleinlicher Parteilichkeit und unüberlegter jugendlicher Draufgängerei hinreichend erheben, machte mir einen tiefen Eindruck.
Möge sich auch noch der nimmer verharschte Groll eines alten Kulturkämpfers in den soeben zitierten Zeilen Luft gemacht haben, eines ist und bleibt sicher, daß nämlich der Religionsunterricht, wie ihn unsere Schulen erteilen, veraltet und kaum mehr zu rechtfertigen ist. Inwiefern die Kirche und ihr Einfluß gegenwärtig daran schuld sind, will ich und kann ich nicht untersuchen, obwohl ich grundsätzlich mit meinem Korrespondenten der Meinung bin, daß Schule und Kirche einander so fern als möglich bleiben sollten, schon um den Artikel 49 der Bundesverfassung nicht in seinen Wirkungen zu kürzen. Allein, mir scheint, der Religionsunterricht, der die Allüren eines kirchlichen Unterrichtes in unseren Schulen trägt, ist mehr ein Resultat jahrelanger Gewohnheit und Überlieferung als das Werk einer streitbaren und zielbewußten konfessionellen Kirche. Weil wir zu träge sind, unsere Schule zu reformieren, und zu untüchtig, mit dem verstaubten und neben dem Leben stehenden Kram und Moder eines schematischen Schulbetriebes aufzuräumen, darum hegen und pflegen wir in unserer Volksschule des 20. Jahrhunderts auch noch einen Religionsunterricht, der nicht weniger zweckwidrig und fossil ist als der Unterricht in den Fächern, welche ich bereits vorgängig in diesen Aufsätzen einer Kritik unterzog.
Zu der Sache selbst scheint mir nämlich, daß eine gewisse Kenntnis der christlichen Religion, in Staaten, welche sich immerhin noch christliche Staaten nennen und deren Gegenwartskultur eine Tochter der mittelalterlich-christlichen Kultur ist, zu der allgemeinen Bildung gehöre. Eine Schulbildung, welche diese Religionskenntnis vollständig ausschalten würde, begäbe sich von vornherein der Mittel, deren sie bedarf, um eine ganze Kulturwelt, die noch in die unsrige hineinragt, verständlich und klar zu machen. Ich habe also nichts dagegen, daß, sagen wir einmal, bis und mit dem vierten Schuljahre das, was man so den Unterricht in der biblischen Geschichte nennt, erteilt werde. Zur Mehrung, wohlverstanden, des allgemeinen Wissens und zur Vervollständigung einer sonst immerhin lückenhaften Schulbildung. Ob an Hand dieses Unterrichtes in biblischer Geschichte ein Ethos angestrebt werden soll und kann, brauche ich wohl nicht zu erörtern; denn es ist selbstverständlich, daß ein Moralunterricht an die biblischen Geschichten ebensowohl angekuppelt werden kann als an irgendein Geschichtenbuch, welches Beispiele des Guten zu seinem Gegenstande hat, und die in der Regel rührend verlogen sind, oder an die Lafontaine’schen Tierfabeln. Allein, unter keinen Umständen dürfte geduldet werden, daß sich an diesen Unterricht Kultushandlungen und Dogmatik knüpfen; denn das nun widerspricht nicht nur dem Sinn und Geist des verfassungsrechtlich niedergelegten Grundsatzes der Unverletzlichkeit der Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern es widerstrebt im letzten Grunde einer großen Zahl von Staatsbürgern, welche nur deswegen nicht protestieren, weil der Religionsunterricht eben immer so gehalten wurde und weil sie sich scheuen, gegen etwas aufzutreten, das in den Augen der Menge noch immer den Nimbus des Geheiligten hat, gegen welches anzukämpfen leicht den Kämpfenden allerhand Mißdeutungen, Schädigungen und Verleumdungen aussetzt.
Von einem eigentlichen Religionsunterricht im schultechnischen Sinne zu sprechen, ist jedoch an und für sich paradox! Denn die Religion ist, so meine ich, nicht eine Wissenschaft, sondern eine Erfahrungstatsache! Sie läßt sich nicht anlernen, sondern nur empfinden. Unterricht in der Religion zu erteilen, heißt Blinde, statt ihre übrigen Fähigkeiten auszubilden, sehend machen zu wollen.
Was die Schule in religiöser Beziehung vermitteln kann, ist allerhöchstens eine gewisse Summe dogmatischer und religionsgeschichtlicher Kenntnisse. Sie hat weder das Recht noch das Vermögen, einer Konfession Proselyten zuzuführen, und hat weder das Recht noch das Vermögen, jugendliche Konfessionsangehörige dauernd an eine Konfession zu binden.
Von Religion sprechen heißt: von Gott und seinem Verhältnis zum Menschen sprechen. Das setzt voraus, daß die Existenz eines Gottes, wie ihn die Kirche lehrt, als unwiderlegbare wissenschaftlicheTatsachebewiesensei.Sieistdasnicht,infolgedessen hat der Religionslehrer die nicht leichte Aufgabe, in jugendliche Gehirne eine Vorstellung zu pflanzen, welche er ihnen nicht logisch auf dem Wege des unmittelbaren Beweises beibringen kann.
Wenn, was durchaus nicht immer der Fall ist, der Unterrichtende ein gläubiger Christ ist, dann mag er eine gewisse moralische Macht über seine Zöglinge gewinnen; aber diese Macht geht, wie beim ungläubigen Lehrer, dann lediglich von seiner Persönlichkeit und nicht von dem Unterrichtsstoffe, zu dem er gerade durch den staatlichen Lehrplan verurteilt ist, aus.
Man drehe und wende die Frage, wie man will, eine befriedigende Lösung läßt sich nicht finden.
Man kann ein braver Mann und dennoch nicht Christ sein! Man kann ein ausgezeichneter Lehrer und wiederum nicht Christ sein, und diesen Lehrer nun zur Verkündigung einer Morallehre, einer Religion anzuhalten, mit welcher er innerlich zerfallen ist, das nenne ich einen unser Zeitalter entwürdigenden Zustand.
Gerade die religiös gesinnten Bürger, welche die Streichung des Religionsunterrichtes aus unsern Volksschulen verlangen, haben dazu das größte Recht. Weil ihnen die Religion als etwas Heiliges und persönlich Unantastbares gilt, haben sie das Recht zu verlangen, daß die Schule durch den Unterricht nicht das religiöse Bewußtsein des Kindes fälsche, durch welches sie glücklich wurden und ihr sittliches Leben danach einstellten.
Bezeichnend ist ja, daß es nicht gerade die frömmsten Leute sind, welchen die Religion eine Herzenssache ist, die sich für den Religionsunterricht in der Schule am zähesten wehren, sondern diejenigen, welchen die Religion ein Machtmittel (namentlich ein kulturelles und politisches Machtmittel) bedeutet. Die Schule aber soll in einem Freistaate politisch, konfessionell und kulturell neutral sein, anders sie zweierlei Recht fördert und oft recht eigentlich schafft.
Moralunterricht? Gut, ich will ihn gelten lassen, obwohl ich der Meinung bin, daß eigentlich jeglicher Schulunterricht gleichzeitig eine moralische Festigung des Schülers in sich tragen müßte. Denn die Schule ist doch in erster Linie da, um Bürger, das will besagen Leute von Kenntnissen und Charakter, und nicht Angehörige eines Glaubensbekenntnisses heranzubilden.
Der Moralunterricht, den ich für die Schule träume, wäre eben gerade ein vertiefter und praktischer Unterricht auf dem Gebiete der Realien, der Sprache und des Zeichnens; es handelt sich lediglich darum, unsern Geschichtsunterricht, unsere Sprachstunden ethisch gehaltvoll an Lebenstatsachen zu gestalten, und alles übrige gibt der Herr umsonst.
Gott nicht in den Büchern und Schriften zweitausendjähriger und zum Teil noch mäßiger Autoren, sondern in seiner täglichen Umgebung, in der Natur, im lieben Nächsten, in den menschlichen Verhältnissen, mit einem Worte, Gott im Leben finden lernen, das ist der einzige Moralunterricht, den wir von der Schule verlangen, dringend verlangen.
Daß sie nicht totes Wissen, sondern lebendiges Können, nicht Buchgelehrsamkeit, sondern praktische Lebenstüchtigkeit vermittle, daß sie kein Credo, sondern Kraft verbreite, das ist es, was sie uns lieb und wert und teuer machen kann. Mehr nicht!
Die Dressur auf die Sekundarschule!
Gewisse Übelstände unseres Schulbetriebes, und leider nicht immer die geringsten, sind weniger vom guten oder bösen Willen der staatlichen und kommunalen Behörden, als von landläufigen und oft geradezu verderblichen Volksanschauungen bedingt.
Eine der verderblichsten und kulturell und ökonomisch gefährlichsten Anschauungen unseres Volkes besteht in seiner Wertung der verschiedenen menschlichen Berufe, der verschiedenen Arbeitsgebiete überhaupt. Das Volk will nicht einsehen, daß ein gewissenhafter Kaminfeger, ein Melker, der seinen Beruf beherrscht und darin Tüchtiges leistet, ein Straßenkehrer, der solid und fleißig seiner Arbeit genügt, ein viel wertvollerer Staatsbürger ist als ein leichtfertiger Beamter, ein unzulänglicher Pfarrer, ein oberflächlicher und gleichgültiger Arzt.
In unserer sozialen Einteilung und Wertung der einzelnen Berufsklassen gewähren wir demjenigen die größte Achtung, der sich am weitesten von der sogenannten groben, der Handarbeit entfernt.
Wir schätzen den Privatdozenten, dem die epochemachende Entdeckung gelingt, daß Goethe am 29. Horner 1819 in einem Billett an seinen Schneider Tuchkragen mit «th» schrieb, höher als den Mann, der uns im Schweiße seines Angesichts ein Klafter Holz gespalten hat. Daher auch die Sucht, namentlich des bürgerlichen Mittelstandes zu Stadt und Land, aus seinen Kindern etwas «Höheres» zu machen, als man selbst ist. Der gute Landschreiner, dessen Handwerk einen goldenen Boden hat, meint wunder was er seinem vielleicht gerade zum Schmiede außergewöhnlich befähigten Sohne für einen Dienst leiste, wenn er es ihm ermöglicht, «Pfarrer zu studieren». Daß dadurch alljährlich unglaublich viele nützliche Kräfte ihrer eigentlichen Bestimmung entfremdet werden, daß das Handwerk moralisch und technisch auf den Hund kommt, daß das Gelehrtenproletariat sich in beängstigender Weise mehrt, daß die Zahl der Nur-Konsumenten sich vervielfacht, während die Zahl der tüchtigen Produzenten auf jedem Gebiete von Jahr zu Jahr vermindert wird, das alles spielt keine Rolle, das tut dem mörderischen Vorurteil keinen Abbruch. Der Bub muß etwas «Besseres», etwas «Höheres» werden, ob er sich dazu eigne und ob er dazu die Fähigkeiten habe oder nicht.
Und wenn es schon nicht für das Gymnasium und die Hochschule langt, dann muß es wenigstens für die Sekundarschule langen. Es gibt landauf, landab viele Leute, welche es als eine persönliche Beleidigung empfinden, wenn man sie zu überzeugen sucht, daß ihr Hans oder ihre Grete mit dem besten Willen den Anforderungen der Sekundarschule nicht zu genügen vermögen, und daß dem Kinde weit besser gedient sei, wenn es die Primarschule als guter denn die Sekundarschule als mittelmäßiger Schüler durchlaufe.
Und da nun die Lehrer und Lehrerinnen von diesen Eltern, welche ja auch ihre Wähler und Brotgeber sind, in einem gewissen materiellen und moralischen Abhängigkeitsverhältnis stehen, so richten sie ihr Verhalten allzuoft danach ein und glauben, sich einen besonderen Ruhmestitel geschaffen zu haben, wenn sie möglichst viele Viertkläßler in die Sekundarschule abschieben können. Denn dann sagt das Volk: «Seht, wie die Jungfer X. tüchtig ist – bei der lernen die Kinder etwas; sie hat soundso viel in die Sekundarschule abgeben können, während Jungfer N. nur soundso viel dazu gebracht hat!»
Daraus ergibt sich im für den ganzen Schulbildungsgang ohnehin so wichtigen vierten Schuljahr alljährlich in einer ganzen Reihe von bernischen Primarschulen ein Betrieb, den ich vom Standpunkte der allgemeinen Volksbildung aus direkt als frevelhaft bezeichnen muß. Statt daß nämlich im vierten Schuljahre das reichlich bemessene Unterrichtsprogramm erledigt wird, setzt so vom Neujahr an ein eigentlicher Wettbewerb zwischen den einzelnen Klassen ein, wer am meisten zukünftige Sekundarschüler züchte. Wohlverstanden, es handelt sich nicht etwa darum, diese Schüler dazu zu bringen, daß sie sich als Schüler der Sekundarschule auszeichnen werden, das geht die Lehrerin nichts an, sondern, daß sie befähigt werden, das Aufnahmeexamen mit Erfolg zu bestehen. Was nachher aus ihnen wird, ist der Lehrerin und den Eltern in gleicher Weise Wurst.
Wie wird nun geschafft? Die sogenannten besseren oder die Kinder derjenigen Leute, von welchen die Lehrerin annehmen darf, daß sie die öffentliche Meinung in ganz besonderem Maße beeinflussen, werden auf das Aufnahmeexamen gedrillt, wobei auf das Unterrichtsprogramm der Sekundarschule in weit mehr als zulässiger und erlaubter Weise geschielt wird. Die übrigen sind misera plebs und werden in ihrer Bildung verkürzt und vernachlässigt. Jawohl, vernachlässigt! Und der beste Beweis, daß ich hier nicht übertreibe, liegt darin, daß die Schüler des fünften Schuljahres in der Primarschule immer um so schwächer sind, als ihre Lehrer des vierten Schuljahres mehr Kinder in die Sekundarschule abzuschieben vermochten. Die Primarschule wird von dem Schaden, welcher sich aus diesem Betriebe ergibt, am empfindlichsten und unmittelbarsten getroffen. Einmal hat sie die Pflicht, alle Kinder ausnahmslos auf eine gewisse Bildungsstufe zu bringen. Das vornehmste Mittel hierzu ist die peinliche Kontinuität in der Abwicklung ihres Programms. Und diese Kontinuität erleidet gerade in dem dem Übertritt von der Mittel- zur Oberstufe vorangehenden Semester einen oft niemals einzuholenden Unterbruch für die Mehrzahl der Schüler, nur damit eine Minderzahl, und ich will nun einmal wirklich annehmen, es seien die Begabtesten, der Primarschule entzogen werden können.
Das Resultat ist von diesem Augenblicke an klar vorauszusehen: Gerade die schwächeren Schüler des vierten Schuljahres werden zugunsten der besseren vernachlässigt, und die besseren verlassen die Primarschule, so daß im fünften Schuljahr mit den minder begabten Schülern, die obendrein vernachlässigt wurden, im Unterrichte dort angeknüpft werden muß, wo man nicht mehr sollte anknüpfen müssen, nämlich im Pensum des vierten Schuljahres. Und das nenne ich ein Verbrechen an der Schule und an den Schülern!
Die Primarlehrer sind in erster Linie für die Primarschule da und sollten es sich angelegen sein lassen, die ihnen anvertraute Schülerzahl im Primarunterricht nach Kräften zu fördern. Sie sollten ein Interesse daran haben, dem Primarunterricht der kommenden Schuljahre vorbereitend soviel wie möglich in die Hände zu arbeiten und den Boden zu ebnen und es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, gerade die unterrichtsbedürftigsten Kinder am meisten zu vernachlässigen, in einer Zeit, die für die ganze fernere geistige Entwicklung wohl die kritischste ist. Sie sollten, so scheint es wenigstens, ein Interesse daran haben, gerade die guten und fördernden Elemente unter den Schülern der Primarschule tunlichst zu erhalten und nicht darauf hinarbeiten, die eigentlichen Zugrosse auszuschalten.
Und die Eltern sollten verständig genug sein, eine solche Ungehörigkeit nicht nur von den Lehrern nicht zu verlangen, sondern sie geradezu zu bekämpfen.
Würde nun von dieser gerügten Praxis wenigstens die Sekundarschule gefördert, dann hätten wir zum mindesten noch einen entfernten Gegenwert und den Schein ihrer Entschuldigung. Allein, auch die Sekundarschule leidet darunter, denn die Kinder, die so gepreßt werden, sind nicht auf den Sekundarschulbetrieb, sondern nur auf das Aufnahmeexamen vorbereitet worden. Die Folge davon ist, daß sie den an sie gestellten Erwartungen in der Sekundarschule nur teilweise, vielleicht auch gar nicht entsprechen, und daß die Sekundarklassen über Gebühr numerisch belastet werden. Statt daß nun der Sekundarlehrer ein numerisch beschränktes, aber auserlesenes Schülermaterial vor sich hätte, mit dem er das Unterrichtsprogramm der bernischen Mittelschulen mit vollem Erfolg absolvieren könnte, blüht ihm das zweifelhafte Vergnügen, mit einer großen Zahl von Schülern einen Unterricht zu treiben, der immer noch Primarunterricht ist. Darunter leiden nun in erster Linie die guten Sekundarschüler selbst, welche über den Primarunterricht nicht hinauskommen, weil eine Anzahl von Mitschülern dem Sekundarunterricht nicht ohne weiteres zu folgen vermag. Und wer etwa schon zugesehen hat, welchen Staub es aufwirbelt, wenn ein einmal in der Sekundarschule aufgenommener Schüler in die Primarklasse zurückversetzt werden soll, der begreift leicht, warum solche Zurückversetzungen nur ausnahmsweise vorgenommen werden.
Der Sekundarschüler von Aufnahmeexamensgnaden aber, der nicht auf Grund seiner besonders entwickelten Fähigkeiten dem Sekundarunterricht zu folgen vermag, hat nun ein böses Dasein. Um promoviert zu werden, muß er mehr zu Hause arbeiten als seiner geistigen und körperlichen Entwicklung zuträglich ist, um dennoch immer mittelmäßig zu bleiben, und während er in der Primarschule seinen Fähigkeiten entsprechend immerhin noch etwas hätte werden können, lernt er nun fürs Leben in der Sekundarschule gar nichts, sondern memoriert bloß, wenn er sich nicht in sein Schicksal ergibt und nach vergeblichen Anstrengungen, Schritt zu halten, es aufgibt, überhaupt noch etwas zu lernen.
Aus solchen künstlich gezüchteten Sekundarschülern werden dann die unzulänglichen «besseren» Berufsleute ausgehoben, die naiv-vorwitzigen Ladenschwengel und das unnütze Schreibervolk, das, wenn es hoch kommt, eine passable Handschrift und einen Stehkragen sein eigen nennt und das, wäre es nicht gewaltsam aus seinem normalen Bildungsgang, der seinen Fähigkeiten angemessen war, herausgerissen worden, auf den Gebieten seiner eigentlichen Talente und seiner natürlichen Bestimmung Gutes und Wertvolles hätte leisten können.
Und es ist bereits so weit gekommen, daß man in gewissen Kreisen beginnt, die Sekundarschule mit recht kritischen Augen zu betrachten und sie an Hand der von ihr erzielten Resultate auf ihre Existenzberechtigung zu prüfen, und daß man in gewissen Berufsarten Lehrlingen mit gewöhnlicher Primarschulbildung wieder den Vorzug gibt.
Auf diese Weise haben wir es zustande gebracht, durch die Primarschule die Sekundarschule zu diskreditieren und die Primarschule selbst zu schwächen.
Ist es noch nötig, auf die Erfahrungstatsache aufmerksam zu machen, daß das Resultat der Rekrutenprüfungen der letzten Jahre ergeben hat, daß die Rekruten mit Primarschulbildung denjenigen mit Sekundarschulbildung immer mehr überlegen sind? Und läßt diese Feststellung nicht gewisse Schlüsse zu?
Ich denke doch und denke weiter, die ruhige Überlegung sollte allein genügen, um einen Betrieb, wie den soeben geschilderten, der darauf hinausgeht, unsere Volksschulbildung auf der ganzen Linie zu schädigen und zu hemmen, von heute auf morgen schon unmöglich zu machen.
Allein, wo die Eitelkeit und der Unverstand der Eltern das Szepter führen, da wäre die Vernunft unvernünftig, räumte sie nicht das Feld!
ORGANISCHER UNTERRICHT STATT DRILL
Als ich vor einiger Zeit (in meiner Broschüre Ist die Schweiz regenerationsbedürftig?) den Satz aufstellte, unsere Volksschule sei, statt eines Lebens- und Kulturfaktors, eine bureaukratische Einrichtung geworden, da wurde ich der Gehässigkeit und maßlosen Übertreibung beschuldigt, und wenig fehlte, und man hätte mich cum infamia und als abschreckendes Beispiel für meine ebenfalls kritisch veranlagten Mitbürger öffentlich ausgestäupt. Man verlangte Beweise und sagte mir ziemlich unverhohlen ins Gesicht, daß es mir nie glücken würde, sie zu erbringen, und man verlangte an Stelle der unbequemen Aussetzungen Vorschläge zur praktischen Hebung der gerügten Mängel.
Ich glaube nun, in den vorhergehenden Erörterungen Beweise und Vorschläge zur Genüge erbracht zu haben, um meine Herren Gegner wenn auch nicht zum Verstummen, so doch zum ernsten Nachdenken zu veranlassen; Beweise und Vorschläge, welche unter intelligenten Menschen, so will mir scheinen, genügen sollten, um zunächst in unserm Kanton und dann auch auf dem ganzen Gebiete der schweizerischen Volksschulen eine gründliche, vom Staate ausgehende Schulreform als etwas dringend Notwendiges anerkennen zu lassen. Allein, ich bin zu wenig mehr Optimist, um nicht einzusehen, daß das Pflichtbewußtsein der leitenden Organe gegenüber der kommenden Generation durch noch so wohlgemeinte und wohlbegründete Auseinandersetzungen nicht aufgerüttelt wird. Sollte es wider Erwarten einmal doch der Fall sein, dann würde ich mir erlauben, noch weitere Vorschläge zu machen, von welchen die folgenden wohl die wichtigsten wären: 1. Abschaffung des Klassensystems und Ersatz desselben durch Unterrichtsstufen, und wenn dies nicht belieben sollte, 2. Abschaffung des Reinklassensystems und Ersatz desselben durch das Gemischtklassensystem.
Unser bernisches Primargesetz schreibt vor, daß ein Schüler, gleichviel ob er gut oder schlecht, begabt oder unbegabt sei, nicht länger als höchstens zwei Jahre in ein und derselben Klasse verbleiben dürfe. Was der Staat damit beabsichtigt, ist also nicht die organische und individuelle Ausbildung des Schülers, sondern das Durchlaufen einer gewissen Zahl von Schulklassen.
Ob bei diesem System der Schüler etwas lerne und fürs Leben tauglich werde, danach frägt der Staat nicht, sondern lediglich danach, ob er eine gewisse Anzahl von Schulklassen durchlaufen und eine gewisse Anzahl von Jahren Schule abgesessen habe. Er vertritt damit die für ihn nicht schmeichelhafte Auffassung, daß sich seine Bildungsgelegenheiten vielmehr an das Gesäß denn an den Kopf wenden, und wenn man die Resultate dieser Auffassung des näheren prüft, so braucht man noch nicht besonders kritisch veranlagt zu sein, um wahrzunehmen, daß wirklich der Kopf der Schüler von unserer Volksschule unverhältnismäßig wenig profitiert, daß dagegen das Organ, welches vornehmlich der Ruhe dient, durch unsern Schulbetrieb zu einer erfreulichen Entfaltung seiner Masse emporgezüchtet wird.
Das vom Staate eingeschlagene System ist falsch! Nicht das ist die Hauptsache, daß der Schüler eine gewisse Anzahl von Klassen durchlaufe und ein gewisses Minimum von Stunden absitze, sondern, daß er für das Leben etwas Brauchbares lerne! Und um etwas Brauchbares zu lernen, muß man gründlich lernen. Es dürfen keine Lücken im Verständnis des Stoffes zugelassen werden, anders alle weitere Arbeit Danaidenarbeit bedeutet und nicht die Zeit wert ist, welche man darauf verwendet.
Gerade der schwache Schüler benötigt dringend, daß man sich mit ihm ganz besonders befasse, und das geschieht nicht, indem man ihn in zweijährigem Turnus mechanisch und von Gesetzes wegen durch die Klassen peitscht.
Schon aus diesem Grunde ziehe ich dem reinen Klassensystem das System der gemischten Schulklassen vor.
In den Landschulen, wo eine oder zwei Lehrkräfte alle neun Schuljahre gleichzeitig und in demselben Lokale unterrichten, ist der schwachbegabte Schüler immer noch am besten aufgehoben. Er übersieht nämlich dort sein ganzes Schulpensum und kann sich danach ausrichten. Indem er in einer Klasse unterrichtet wird, genießt er das ständige Repetitorium des Unterrichtes der untern Klassen, und seine früheren Bildungserrungenschaften sind ihm stets lebendige Gegenwart und werden seinem Gedächtnis nie entzogen. Daraus ergibt sich eine viel größere Gründlichkeit des elementaren Wissens, als sie bei dem System der reinen, voneinander getrennten Klassen je erreicht wird.
Der gute Schüler jedoch, der mit rascher Auffassungsgabe bedacht das Pensum seiner Klasse mit spielender Leichtigkeit bewältigt, der langweilt sich in den gemischten Klassen nicht; die Schule wird ihm nicht zur Qual, denn sein lebhafter Geist kann sich passiv oder aktiv an dem Unterrichte der über ihm stehenden Altersklassen beteiligen, so daß sein Bildungsgang ein stetiges unmerkliches Repetieren des schon Gelernten und gleichzeitig ein stetes Besitzergreifen neuer Wissensgebiete ist. Aus diesem Grunde halte ich dafür, daß an den Schulen mit gemischten Klassen vielleicht nicht mehr, aber entschieden nutzbringender gearbeitet wird als an den Schulen mit reinem Klassensystem, wo dem Lehrer eine Menge ihm persönlich bis anhin unbekannter Schüler alljährlich aufgesalzen wird, bei welchen er zunächst einige Wochen verwenden muß, um sie auf ihre Fähigkeiten zu prüfen und die einzelnen kennenzulernen.
Die Kontinuität des Kontaktes zwischen dem Schüler und dem Lehrer in unsern gemischten Klassen ist nicht nur vom Standpunkte des Bildungsganges von unersetzlichem Werte, weil er dem Unterrichtenden viel eher gestattet, den Schüler seinen Fähigkeiten angemessen zu beschäftigen, sondern scheint mir auch große erzieherische Vorteile aufzuweisen. Es ist ein Wille da, der die ganze Schülerzahl leitet und regelt, und eine Methode, welche, während neun Schuljahren, die Arbeit beherrscht. Es kann nicht vorkommen, daß im dritten Schuljahre eine Federhaltung vorgeschrieben wird, welche im fünften Schuljahre einer andern weicht, um im achten Schuljahre durch eine dritte ersetzt zu werden, wovon alle drei die alleinseligmachenden und allein richtigen sind. Es wird Zeit gewonnen und lebendiger geschafft!
Allein, in Wirklichkeit genügt auch die Methode der gemischten Klassen nicht, um dem Schüler die Schulbildung ins Leben mitzugeben, welche den Aufwand an Zeit, Geld und Arbeit, der an unsere Schule verwendet und oft verschwendet wird, rechtfertigt. Die einzig vernünftige Lösung wäre, die Klasseneinteilung überhaupt abzuschaffen und sie durch Unterrichtsstufen zu ersetzen.
Was darunter zu verstehen sei?
Sie haben gewiß schon Schüler einer Klasse gesehen, welche, sagen wir mal, im Rechnen Vorzügliches leisteten, dagegen dem Sprachunterricht kaum zu folgen vermögen. Was wäre nun natürlicher, als solchen Schülern zu gestatten, den Rechenunterricht in ihrer normalen Altersstufe, den Sprachunterricht aber dort zu besuchen, wo er ihrem Begriffsvermögen angemessen ist, nämlich in der untern Klasse. Umgekehrt haben Sie auch schon Schüler gesehen, die das Pensum eines Faches ihrer Klasse mit Leichtigkeit erfaßt und verdaut haben, weil sie eine besondere Begabung dafür ihr eigen nennen, und nun gezwungen sind, einem Unterrichte zu folgen, der ihnen in Gottesnamen nichts Neues mehr zu bieten vermag und der sie langweilt in einem Maße, daß sie nicht selten auf dem Gebiete, wo ihre besondere Begabung liegt, faule und unaufmerksame Schüler werden. Wäre es in einem solchen Falle nicht viel vernünftiger, ihnen zu gestatten, den Unterricht in der folgenden Altersklasse zu besuchen, wo ihr Geist angeregt und ihre Fähigkeiten geschärft würden, wo ein lebendiges Interesse am Lehrstoff stets vorhanden und die Möglichkeit, wenigstens auf einem Gebiete das Höchste zu erreichen und zu leisten, gegeben wäre?
So wie die Sache gegenwärtig steht, bedeutet die Schule für viele Kinder eine eigentliche Verdummungsanstalt, während ihre Aufgabe doch sein sollte, treibende Knospen zur Entfaltung, grünende Reiser zur Blüte, Blüten zu ausgereiften Früchten emporzuzüchten.
Das Leben ist heutzutage, will mir scheinen, mannigfaltig genug, daß sich jede Fähigkeit darin entfalten und nützlich machen kann. Es kommt in unserm Zeitalter der weitgehendsten Arbeitsteilung viel weniger denn in früheren Zeiten auf eine allgemeine und gleichmäßige Schulbildung an als darauf, daß der einzelne auf einem Sondergebiete tüchtig sei. Auf Sondergebieten reifen heutzutage die Früchte der Arbeit; auf Sondergebieten vermag sich der einzelne im Leben zu behaupten; Sondergebiete sind es, die den Tüchtigen nähren und kleiden, ihm Ansehen und Macht verschaffen.
Und dieser Lebenstatsache darf sich die Schule nicht ewig verschließen, wenn sie dem Leben nützlich sein will. Sie soll auf das Leben vorbereiten und nicht gegen seine Anforderungen abstumpfen.
Zwar weiß ich eine allgemeine Bildung vielleicht mehr denn viele meiner Herren Gegner zu werten; allein, diese allgemeine Bildung, die den Menschen adelt, fußt auf der tüchtigen und hingebenden Arbeit auf einem Sondergebiete! Was uns not tut, ist viel weniger das summarische Wissen auf allen möglichen Gebieten als die Arbeitsmethode, sich dieses Wissen je nach Bedarf selbst zu erobern.
Und auf intellektuelle Eigeneroberungen sind wir im Leben angewiesen, gleichviel ob wir Künstler oder Landarbeiter, Beamte oder Akademiker seien!
Unterrichtsstufen also, die dem Schüler gestatten würden, beispielsweise im Rechnen im Pensum des achten, in der Sprache in dem des sechsten, in einigen Realfächern in dem des vierten Schuljahres nicht zu sitzen, sondern an der Mehrung seines positiven und lebendigen Wissens zu arbeiten, und zu erwerben, was ihm fehlt, und zwar ohne Zeitverlust, mit Lust und Interesse am Unterricht!
Das wäre alles schön und recht, höre ich mir erwidern; aber praktisch undurchführbar und kostspielig!
Ich erlaube mir, gegenüber dem ersten Einwande, die praktische Durchführbarkeit betreffend, ergebenst zu bemerken, daß dieser Modus, wie ich ihn vorschlage, das Geheimnis der Erfolge der meisten Privatschulen ist, und daß gerade an den besten Fachschulen kein anderes System in Anwendung kommt, und daß gerade dieses System die Handels- und Fremdenschule in Neuenburg zu einer der besten Schulen überhaupt gemacht hat.
Sollte nun dem Staate unmöglich sein, was der privaten Initiative ein leichtes ist? Hat der Staat weniger Organisationstalent als dieser und jener einzelne Lehrer oder Lehrerin, welche aus ihren Privatschulen eigentliche Bildungsinstitute mit rationellem Unterricht fürs Leben geschaffen haben?
Ist dies der Fall, dann hat die Volksschule moralisch Konkurs gemacht, dann mag sie der Staat ruhig aufheben; denn dann lohnt es sich nicht, sie länger in einem Zustande des Scheinlebens zu erhalten!
Allein, ich denke doch, daß auf dem Gebiete des öffentlichen Bildungswesens gerade der Staat in allen Schulfragen wegleitend und mustergültig vorangehen, den Privatschulen vorangehen sollte, während bei uns die Sache umgekehrt ist: der Staat muß sich von den Privatschulen beschämen und überflügeln lassen. War das die Absicht, aus welcher der schöne demokratische Gedanke der allgemeinen Volksschulbildung entsprang?
Der Kostenpunkt? Nun, ich denke, daß nur das Geld uns reuen darf, das sich schlecht oder nicht verzinst! Daß eine wirklich gute Schule, eine Schule nicht für die Schule, sondern fürs Leben gar nicht teuer genug bezahlt werden kann, und ich glaube ferner, daß uns nur das Geld zu reuen braucht, welches wir für unsere jetzige unzulängliche Schule auswerfen, nicht aber der doppelte und dreifache Betrag des Geldes, das wir für eine gute Schule auszugeben hätten. Denn dieses Geld würde sich reichlicher als jedes andere verzinsen, schaffte es uns doch junge Leute, mit welchen im Leben, nicht wie jetzt trotz der Schulbildung, sondern infolge der Schulbildung etwas anzufangen ist. Sie würde uns an Stelle des Geldes ganze Menschen geben, und je mehr ich um mich blicke und unsere Zustände auf allen Gebieten der Kultur, der Politik und der Volkswirtschaft betrachte, je mehr drängt sich mir die betrübende Überzeugung auf, daß es uns an nichts so gebricht wie an ganzen, selbständigen und lebenstüchtigen Menschen!