1913
Der bureausaurus helveticus L.
Aus: Satiren und Burlesken.
Die neuzeitlichen Naturwissenschaften befassen sich in den letzten Jahrzehnten immer eingehender mit der Erforschung der urweltlichen Saurier und versuchen, die einzelnen Arten vermittelst allerhand gelehrter Schlussfolgerungen und Arbeitsmethoden wieder aufzubauen. Um so befremdlicher muss es erscheinen, dass kein naturwissenschaftliches Werk, ja nicht einmal die entlegenste Sonderveröffentlichung, keine Doktorarbeit sogar, sich mit der wahrscheinlich einzig noch lebenden Tiergattung jener Zeit, nämlich mit dem Bureausaurus befasst oder ihn auch nur erwähnt. Diese Lücke in groben Zügen auszufüllen, sei der Zweck dieser gelehrten Zeilen, wobei ich mir selbstredend nicht anmasse, eine abschliessende Beschreibung und einen lückenlosen Untersuchungsbefund dieses merkwürdigen Tieres zu bieten, das sich vermöge seiner ans Fabelhafte grenzenden Assimilationsfähigkeit (Anpassungsfähigkeit) und seiner unvergleichlichen Lebenszähigkeit nicht nur bis in unsere Zeiten hinein erhalten und behauptet hat, sondern als Gattung in unsern Tagen üppiger als je gedeiht. Der Bureausaurus weist zahlreiche Abarten auf, welche an dieser Stelle eingehend zu untersuchen und zu beschreiben wohl zu weit führen würde. Immerhin sei mir die Mitteilung erlaubt, dass ich das Tier in seinen verschiedenen Lebensstadien seit einer geraumen Reihe von Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte, und zwar war es mir vergönnt, Exemplare folgender Abarten lebend zu beobachten und zum grossen Teil auch zu untersuchen: Am häufigsten hatte ich Gelegenheit, den bureausaurus helveticus L. (L. bedeutet in diesem Falle nicht Linné, sondern meinen eigenen bescheidenen Forschernamen) zu studieren. Dieses Studium wurde mir namentlich dadurch erleichtert, dass sich nicht fern von meinem Wohnorte wohl die grösste Siedelung dieses merkwürdigen Sauriers befindet, so dass ich all die letzten Jahre fast täglich Gelegenheit hatte, des Tieres Lebensweise, Beschaffenheit und Gewohnheiten an rassenreinen Exemplaren eingehend zu studieren. Ausserdem hatte ich, wenn auch seltener und nur anlässlich zufälliger und meist kurzer Reisen die Gelegenheit, ab und zu Exemplare des bureausaurus teutonicus, des bureausaurus gallicus, von welchen der erstere ausschliesslich in Deutschland, der zweite ebenso ausschliesslich in Frankreich anzutreffen ist, und endlich des bureausaurus asthmaticus anzutreffen, welch letzterer mir oft und zwar ziemlich überall auf dem europäischen Festlande vor Augen kam. Allein der wissenschaftlichen Genauigkeit halber verzichte ich auf die Behandlung jener mir entlegenen Saurier und halte mich im Folgenden nur an die Gattung, welche mir am meisten Anlass zu wirklichem Studium bot, nämlich die des bureausaurus helveticus L., in der Hoffnung, dass, angeregt durch diese Arbeit die übrigen europäischen Arten von meinen kompetenten Kollegen jenseits der Landesgrenzen ebenso gewissenhaft erforscht und dadurch die Zahl der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse um ein Erkleckliches gemehrt wird. Der bureausaurus helveticus L. stammt zweifelsohne aus der Kreideperiode und gehört der Klasse der reptilia (Kriechtiere) an, also einer Klasse von Wirbeltieren mit Charaktermerkmalen, die sie in nahe Verbindung mit den Vögeln (namentlich den Gallinaceen und Palmipeden, d.h. den Hühner- und Gänsearten) bringen. Solche Kennzeichen sind u.a. die ausschliessliche Lungenatmung, wobei zu bemerken ist, dass sehr häufig die Lunge asthmatisch atrophiert sich vorfindet. Ferner, die Drehung des Kopfes auf der Wirbelsäule mittelst nur eines Gelenkhöckers, die Entwicklung im Ei unter Auftreten von Embryonalhäuten, die der Saurier zeitlebens nimmer los wird. Wie allen Reptilien ist dem bureausaurus helveticus L. auch, besonders in der ersten Zeit seiner Entwicklung, die Beschuppung der Haut eigen. Namentlich der Kopfhaut, die nur ausnahmsweise behaart ist, jedoch ihren Haarwuchs, ungefähr vom dreissigsten Altersjahre an, an eine immer mehr zunehmende Kalvität (Glatze) eintauscht. Der bureausaurus helveticus L. darf im allgemeinen als ein guter Schwimmer und Kletterer eingereiht werden, wobei ihm seine ungemein biegsame Wirbelsäule in hervorragendem Masse zu statten kommt. (Siehe den Bau der Wirbelsäule bei den Schlangenarten!) Dagegen konnte ich nie feststellen, dass der bureausaurus helveticus L. auch flugbegabt wäre, denn dazu fehlen ihm auch die embryonalsten organischen Ansätze. Er schwimmt am liebsten und sehr geschickt mit dem gerade vorherrschenden Strome, klettert mit ungemeiner Behendigkeit auf hierarchischen Leitern und Kletterbäumen, wogegen ihm die Natur, wie schon erwähnt, jeglichen Flug von vorneherein versagt hat. Auf ebenem Lande bewegt er sich, infolge seiner stets schwitzenden und säbelbeinig eingebogenen untern Extremitäten, nur langsam, und da der Schwerpunkt seines Körpers im Bauche liegt, nach vorn gebeugt und stets aufwärtsblinzelnd fort. Seine Haut ist derb, rissig und unelastisch, besonders in der Aftergegend, wo ihr auch der kräftigste, von oben kommende Fusstritt nichts anhaben kann. Ihre Färbung ist im allgemeinen diejenige alten, gut gelagerten Rindsleders und rührt von alkoholartigen Pigmenten her, die in ihr liegen und häufig dem Tier einen Farbenwechsel gestatten, je nachdem ein besonderer Wind weht oder es in eine neue Umgebung gerät. Drüsen, namentlich die den giftigen Speichel absondernden Geiferdrüsen, kommen an der Innenseite der Backenmuskel vor; dagegen ist die dem bureausaurus helveticus L. eigene Hämorrhoidaldrüse in der Aftergegend durch ihre Absonderungen für den Menschen zwar gelegentlich lästig, aber durchaus ungefährlich. Das Skelett ist fast ganz knöchern, mit einziger Ausnahme der Rückenwirbel, die aus einer aussergewöhnlich schmiegsamen und elastischen Knorpelsubstanz bestehen. Die Wirbelkörper sind, wie bei allen niederen Tierarten, bikonkav, sonst aber in der Regel mit einem Gelenkkopf versehen, der jedoch häufig kreidig wird und dann bei den spärlichen Bewegungen des Tieres ein Geräusch hervorruft, das mit dem des Einkreidens eines Billardstockes täuschende Ähnlichkeit hat.
Das Nervensystem des bureausaurus helveticus L. erhebt sich entschieden über das der Amphibien. Am Gehirn sind die Hemisphären ansehnlich gross und beginnen das Mittelhirn zu bedecken. Bemerkenswert ist, dass der ausgewachsene bureausaurus helveticus L. immer hydrokephal (wasserköpfig) ist. Auch die Sinneswerkzeuge, besonders die Tastnerven, sind im allgemeinen feiner als bei den Amphibien. Dass jedoch der Geschmackssinn dem bureausaurus helveticus L. vollständig abgeht, halte ich nach unzähligen und gewissenhaften Beobachtungen und Untersuchungen für vollkommen erwiesen. Der Geruchssinn reagiert nur auf ganz grobe Reize, wie Düfte von Weber B C, gebratenem Schweinefleisch mit Sauerkraut, mehr oder weniger geschwefelten italienischen Waadtländerweinen usw. Eine fernere Eigentümlichkeit des bureausaurus helveticus L. besteht auch darin, dass die Netzhaut seiner Glotzaugen schwarz, dass sein Gesichtssinn atrophiert und das Tier fast ausnahmslos das Opfer einer starken Myopie (Kurzsichtigkeit) ist. Der bureausaurus helveticus L. hat zwei Augenlider, von denen das obere über den Augapfel hin meist und gern nach unten gezogen wird. Strabische Veränderungen sind häufig. Ausserdem befindet sich am innern Augenwinkel noch eine besondere und höchst vollkommen ausgebildete Nickhaut. Die Pupille ist in der Regel rund und meist sehr beweglich. Ich habe zu wiederholten Malen festgestellt, dass sie sich bei besonderen Nervenreizen bis zu der Grösse eines normalen Pflugrades erweitern lässt. Das Ohr ist von dem Kopfe meist abstehend und hat eine sehr gewundene Schnecke mit eustachischer Röhre und einem ungemein widerstandsfähigen Trommelfell. Alte, vollständig ausgewachsene Exemplare tragen oft hinter dem rechten Ohre einen gansfederartigen Auswuchs, der auf eine entfernte Verwandtschaft mit den Palmipeden (siehe oben) neuerdings schliessen lässt. Der Riecher des bureausaurus helveticus L. ist ausserordentlich stark entwickelt; da jedoch der Geruchssinn ganz rudimentär ist, passiert es dem Tiere oft, den Riecher, den es in alles zu stecken pflegt, mitunter gründlich zu verbrennen. Da der bureausaurus helveticus L. sowohl von vegetabilischen als von animalischen Stoffen lebt, so ist sein Darmkanal äusserst geräumig und solid gebaut. Zahnlos sind nur die älteren Exemplare des bureausaurus helveticus L. Wenn das Tier jedoch nicht mehr beissen kann, dann ersetzt die ausserordentlich reichliche Absonderung der Giftgeiferdrüsen die Zähne, auf welchen oft Borsten wachsen, welche um so besser gedeihen, als das Tier mit Vorliebe unzählige Male ein und dasselbe wiederkaut. Die Zunge ist breit und weich und in einer Scheide verborgen, aus der sie herausgeschnellt werden kann. Sie dient dazu, das Speichelgift auf einen wirklichen oder vermeintlichen Gegner zu schleudern. Die Speiseröhre ist unverhältnismässig weit und kann bei dem ausgewachsenen Exemplare, wie bei den Schlangen, zugleich mit Maul und Rachen ausserordentlich erweitert werden. Der Magen ist strumpfähnlich und in der Stärke der Muskelwandung einer wohlgegerbten Pferdehaut ähnlich. Stets ist er durch die Pförtnerklappe vom Darm geschieden. Der weite Enddarm beginnt in der Regel mit einer ringförmigen Klappe, oft auch mit einem Blinddarm und führt in die Kloake, die als Längespalte unter der Schwanzwurzel, wo sich auch die Hämorrhoidaldrüsen befinden, ausmündet. Die Atmung besorgen stets, auch in jugendlichem Alter, zwei Lungensäcke, die sehr dehnbar sind und auf deren häufige Atrophien wir schon hinwiesen. Im Gegensatz zu allen übrigen Reptilien ist der bureausaurus helveticus L. stimmbegabt. Seine Stimme wechselt je nach den gegebenen Nervenreizen ganz ungemein und durchläuft eine Tonleiter vom heiseren Krächzen bis zur stark zitternden Fistelstimme, ja steigert sich bei grosser Erregung zu boshaften und langgezogenen Zischlauten. Der Kreislauf des Blutes weicht wesentlich von dem ähnlicher Tiergattungen ab. Wie in den Gefässen aller Reptilien fliesst auch in denen des bureausaurus helveticus L. gemischtes Blut, von der Beschaffenheit ziemlich dicker Kopiertinte. Von einem, im gewöhnlichen Sinne organischen Herzen ist beim bureausaurus helveticus L. nicht die Rede; dagegen hat er an dessen Stelle eine Art glasharten Behälters, der mit einem Tintenfass mit Metalldeckel grosse Ähnlichkeit aufweist. Die Nieren sind von ganz abnorm grossem Umfang und liegen hinten in der Leibhöhle, zu beiden Seiten der Wirbelsäule. Kennzeichnend für diese Organe des bureausaurus helveticus L. ist ein stark säuerlicher Biergeruch. Die Leber ist ungemein gallig, gross und höckerig. Ihre Sekretions- (Absonderungs-)fähigkeit ist grösser als bei irgend einem andern, der Wissenschaft bekannten Tiere. Von der Lebensweise des bureausaurus helveticus L. lässt sich sagen, dass er ein Landbewohner ist und selten vereinzelt auftritt. Über Tags zieht er trockene und schattige Plätze vor, des Nachts dagegen, hauptsächlich vor Mitternacht, sucht er mit Vorliebe feuchte Orte, die ihm als Tränkestätten dienen, auf. Den Tag verbringt er hauptsächlich mit Schlafen und kann ausserordentlich bösartig und gefährlich werden, wenn er in seinem Schlummer gestört wird. Man wird daher gut tun, sich in solchen Fällen vor seinen giftigen Speicheldrüsen in acht zu nehmen. Das Tier hat immer Hunger und frisst dreimal täglich die Nahrungsmittelmenge, welche seinem Eigengewicht entspricht. Aus diesem Grunde richtet es unheimlich viel Schaden an, und es ist schon zu wiederholten Malen vorgekommen, dass ganze Länderstrecken durch die Überhandnahme des bureausaurus helveticus L. einfach leer und kahl gefressen wurden. Aus diesem Grunde ist die Vermutung erlaubt, es möchte sich die alte Sage von dem länderverwüstenden Drachen, der zu seiner Sättigung blühende Menschenleben fordert, auf eine, nicht notwendigerweise ausgestorbene Art des bureausaurus helveticus L. zurückführen lassen. Abgesehen von seinem giftigen Geifer und seiner unersättlichen Fresslust ist der bureausaurus helveticus L. als einzelnes Exemplar genommen nicht gefährlich und vermöge seiner, ihm innewohnenden Trägheit verhältnismässig harmlos. Eine seiner Haupteigentümlichkeiten besteht darin, dass er vermöge seiner dicken Haut für alle von oben kommenden Schläge und Anprälle sozusagen unempfindlich ist. Im Gegenteil, ich habe oft Gelegenheit gehabt, zu beobachten, dass Schläge, von oben nach unten geführt, wollustähnliche Gefühle in dem Tiere auszulösen scheinen. Um so merkwürdiger ist daher seine überfeine Empfindlichkeit gegenüber dem geringsten Nervenreiz, der ihn horizontal oder von unten nach oben trifft. Seine plötzlich geifernde Wut kennt dann keine Grenzen mehr und in solchen Fällen ist es ratsam, sich ihm fern zu halten oder, wenn es tunlich ist, ihn kurzerhand zu überwältigen. Letzteres gelingt beim einzelnen Exemplar fast ausnahmslos; allein man setzt sich der Gefahr aus, die ganze Sippe auf den Hals zu bekommen und durch das vereinigte Gewicht der allezeit vollgefressenen Tiere erdrückt oder durch ihren Geifer und ihren moderduftigen Geieratem jäh vergiftet zu werden. Im freien Menschen wittert der bureausaurus helveticus L. seinen natürlichen Feind, und es ist interessant zu beobachten, wie er sich gegenüber dem Menschen, dessen Kraft er offensichtlich nur darum unterschätzt, weil jener selten davon Gebrauch macht, benimmt. Er nimmt nämlich, soweit es sein elastisches Rückgrat zulässt, eine halb aufrechte, halb sitzende, halb kauernde Stellung ein, starrt den Eindringling bösen Glotzblickes an, wobei die vorerwähnte Nickhaut beständigen Zuckungen unterworfen ist. Da er vermöge der natürlichen Schwäche seines Rückgrates die aufgerichtete Stellung nicht lange zu behaupten vermag, hat man sich oft der Täuschung hingegeben, er lasse sich zu herablassenden, gutmütigen Bewegungen verleiten. Dieses ist jedoch ein Irrtum, von dem man sich leicht überzeugen kann, wenn man mit des Tieres sonstigen Gewohnheiten vertraut ist. Das aussergewöhnlich feige Tier, von dessen enormer Kurzsichtigkeit schon die Rede war, lässt sich bloss darum gelegentlich recht tief herab, um besser erkennen zu können, ob sich an dem vermeintlichen oder wirklichen Feind etwas Fressbares vorfinde. Ist dieses nicht der Fall, dann schläft der bureausaurus helveticus L. sofort wieder ein, andernfalls aber versucht er, durch plumpe List oder Gewalt seiner Beute habhaft zu werden, indem er sie in seine §-förmigen Klauen verstrickt. Der bureausaurus helveticus L. ist in der Schweiz, wo ich ihn studierte, und namentlich im Uechtland ungemein verbreitet und sein Nachwuchs nimmt von Jahr zu Jahr in besorgniserregender Weise zu. Die grössten Siedelungen des Tieres befinden sich jeweilen an den auch von Menschen am dichtesten bevölkerten Orten. Leider wird der bureausaurus helveticus L. von den Menschen nicht in seiner ganzen Gefährlichkeit erkannt, so dass sie, statt ihn zu ihrem eigenen Wohle einmal mit Stumpf und Stiel auszurotten, ihn zum Schaden ganzer Ländereien künstlich züchten, obwohl sie absolut nicht den geringsten Nutzen aus ihm ziehen. Es ist daher anzunehmen, dass die Art und Weise, wie der bureausaurus helveticus L. wichtigtuerischer Miene seine Lungensäcke aufbläht und alle Augenblicke, je nach der Windrichtung oder den abwechselnden Nervenreizen seine Farbe verändert, den Menschen eine Art unentbehrlicher ästhetischer Befriedigung gewähre. Es bleibt noch nachzuholen, dass das Tier ein Maximalalter von hundert, ein Durchschnittsalter von fünfzig bis sechzig Jahren erreicht. Und als besondere Eigentümlichkeit lässt sich verzeichnen, dass seine ohnehin schon von Natur aus äusserst geringen Verstandeskräfte in direktem Verhältnis zu seiner körperlichen Entwicklung abnehmen. So viel über die allgemeine Beschaffenheit und die Lebensweise der einzigen, noch lebenden Tiergattung aus der Kreidezeit. Der Wissenschaft bleibt es nun vorbehalten, sie in ihren zahlreichen Abarten eingehend zu erforschen – hier begnügte ich mich, auf das Vorhandensein der Saurier aufmerksam zu machen und die Ergebnisse meiner Untersuchungen durchaus summarisch mitzuteilen.