In kurzen Zeitabständen wurden von den unzähligen Verbrechen an sogenannten Verdingkindern im Kanton Bern zwei empörende Fälle aufgedeckt. Der von Madiswil, wo ein zwölfjähriger Knabe (Chrigel) von seinen Pflegeeltern fortgesetzt sexuell missbraucht und misshandelt wurde, ohne dass die Behörden einschritten, obwohl die Angelegenheit dorfbekannt war. Der andere, jüngste Fall in Kandersteg betrifft einen fünfjährigen Knaben, der buchstäblich zutode gemartert und ausgehungert wurde. Im ersten Fall waren es ein Journalist und ein Photoreporter, die ihn öffentlich aufdeckten. Im zweiten ein Student der Medizin. Der zuständige Armeninspektor erfuhr erst nach dem Tode des Opfers, dass dieses beim Ehepaar Wäffler im Labholz (Gemeinde Kandersteg) verkostgeldet war. Die Armenbehörde von Kandersteg hatte es nicht für nötig befunden, ihn pflichtgemäss davon zu verständigen.
Misshandlungen und unverantwortliche Verwahrlosungen von Verdingkindern sind im Kanton Bern häufig. Sie sind nicht alle so schwer wie die vorberührten und namentlich – die wenigsten werden der Öffentlichkeit bekannt.
Das kann geschehen, weil unsere Armengesetzgebung unzureichend ist und weil die Kinderschutzgesetze nicht befolgt werden. Art. 368 und 405 ZGB würden Handhabe bieten, dem Übel weitgehend zu steuern, würden sie bloss sinngemäss befolgt. Es gibt viele Verdingkinder, die überhaupt keinen Vormund haben oder unter unzulänglicher Kollektivvormundschaft stehen, die den Anforderungen des Art. 405 ZGB nicht gerecht wird und auch praktisch nicht gerecht werden kann.
Ferner fallen als Ursachen vor allem in Betracht die unsoziale Einstellung weiter Bevölkerungskreise, ihre sittliche Feigheit, ihre allgemein selbstsüchtige Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Verbrechen an Unmündigen. Daraus ergeben sich Misshandlungen, mangelhafte Betreuung im Hinblick auf Wohnung, Kleidung, Nahrung, Missbrauch der jugendlichen Arbeitskraft, Vernachlässigung ihrer Schulung, Verwahrlosung ihrer nachschulischen, beruflichen Ertüchtigung. Daher fallen auffallend viele ehemalige Verdingkinder später der Erwerbs- und Freiheitsunfähigkeit, dem Laster und dem Verbrechen anheim.
Staat und Gesellschaft haben dann den doppelten Schaden vermehrter Armen- und Fürsorgelasten, Gerichts- und Strafvollzugsausgaben, aber auch die zuzüglichen Fiskalbelastungen zu tragen, die sich aus der Nachkommenschaft der vernachlässigten, verwahrlosten, unertüchtigten, verbitterten, daher freiheitsunfähigen und kriminellen ehemaligen Verdingkinder ergeben; ganz abgesehen von den Schädigungen sozial-ethischer Natur. Also auch ein fiskalisches Defizitgeschäft!
Daher muss gefordert werden: Kinder noch nicht schulpflichtigen Alters dürften überhaupt nicht verdingt werden, sondern sind, wenn sie schon keine Eltern haben oder nicht bei diesen bleiben können, in wohlbeaufsichtigten Kinderheimen, wenigstens bis zum erreichten 7.Altersjahr zu betreuen.
Da die örtlichen Armeninspektorate an sich unzulänglich organisiert und unzureichend sind, müssen ihre Kompetenzen ergänzt, ihre Pflichten erweitert werden. Und zwar sollten über den Bezirksarmen-
Inspektoraten Oberinspektorate nach Landesteilen geschaffen werden, die, unabhängiger als jene, zugreifen könnten und dürften. Es wäre denn, man unterstellte die ganze Kinderbetreuung dem kantonalen Jugendamt und seinen zu diesem Zwecke entsprechend zu vermehrenden Jugendanwälten.
Diese Instanzen müssten befugt sein, private Meldungen über Kinderverwahrlosungen oder –misshandlungen entgegenzunehmen, ohne verpflichtet zu sein, die Namen der Anzeiger preiszugeben. Dagegen müsste jede einlaufende Anzeige einer unverzüglichen Untersuchung rufen. Die Anzeiger aber müssten die Gewähr haben, vor aus ihren Meldungen anders erwachsenden Unannehmlichkeiten und Schädigungen verschont zu bleiben. In jedem Anzeigefall wäre unverzüglich einzugreifen und die allenfalls erforderlichen Massnahmen zu treffen unter Anzeige- oder Klageverpflichtung gegen fehlbare Eltern, Pflegeeltern, Behörden und deren Organe an das zuständige Richteramt. Zivil-, straf- und administrativrechtlich Verzeigte dürften nicht anders als einzelne Privatdelinquenten behandelt werden. Zivilrechtliche Forderungen, die sich aus Delikten an Kindern ergeben, müssten aus dem Vermögen der Gemeinde, in der sich der Rechtsbruch ereignet hat, von Fall zu Fall gedeckt oder sichergestellt werden.
Vorbeugender Familienschutz wäre überhaupt allgemein anzuordnen. Besonders müssten die ohnehin zu entrichtenden Kostgelder für arme Kinder, wo es irgendwie angängig wäre, ihren Eltern zufliessen, unter der Voraussetzung immerhin, die Mutter werde zu jener Erziehung und Betreuung ausserhäuslichem Erwerbsleben enthoben, und zwar vermittelst hinreichender Zuschüsse aus öffentlicher Hand.
Die Amtsentsetzung der zuständigen, fehlbaren Behörden und Organe müsste in jedem deliktischen oder kriminellen Fall automatisch erfolgen. Als Fürsorger und Fürsorgegehilfen dürften bloss Leute angestellt werden, deren menschliche und fachliche Zuständigkeit vermittelst eines Ausweises über ausreichende charakterologische, pädagogische und soziologische Tüchtigkeit und Eignung zu erbringen wäre. Ein ständiger Pressedienst (ähnlich wie über Handel, Sport, Literatur,usw.) müsste mit der Aufgabe der Aufklärung und Erziehung des Volkes zu menschlich-sozialem Verständnis geschaffen werden.
Die Kostgelder für die Pflegekinder müssten so weit erhöht werden, dass die Pflegeeltern ebensowenig wie die Erziehungsanstalten zu ihrem wirtschaftlichen Daseinsbestand auf die Arbeitsleistung der Verdingkinder angewiesen wären. Die wie vorgedacht ausgebildeten Fürsorger und ihre Hilfskräfte müssten ausreichend besoldet und in erforderlicher Zahl auf Lebenszeit angestellt werden; es wäre denn, sie träten freiwillig von Amt und Anstellung zurück oder liessen sich grobe Pflichtvernachlässigungen zuschulden kommen.
Pflegeeltern, die sich einmal gröblich gegen die zu erlassenden oder bereits bestehenden Pflegevorschriften vergangen haben würden, müssten für die Dauer von wenigstens fünf Jahren von der Berechtigung, weitere Pflegekinder aufzunehmen, ausgeschlossen werden. In schweren (deliktischen oder kriminellen) Fällen würde der Ausschluss auf Lebenszeit verhängt. Mit dieser Verfügung wäre, nach Massgabe richterlichen Urteils, ihr ebenso langer Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu verbinden.
Das wären vorderhand die dringlichsten erforderlichen Massnahmen, die jedoch so lange nicht ausreichen, als der Grossteil unseres Volkes nicht zu sozialem Gemeinsinn (nicht zu Philanthrophagie und Wohltätigkeitsattentaten!) erzogen sein wird.
1945