1938
Schweizerische Konzentrationslager und „Administrativjustiz“
In: Der Schweiz. Beobachter, Basel, Nr. 11 15.6.
Die öffentliche Meinung unseres Landes entrüstet sich mit voller sittlicher Berechtigung über die Institution der sogenannten Konzentrationslager im diktatorisch regierten Ausland. Sie erblickt darin Enthaltungs- und Strafanstalten, in die jeder beliebige Bürger versetzt werden kann, ohne zuvor einem gerichtlichen Verfahren ordentlicherweise unterstellt worden zu sein. Ein solches nämlich sichert dem Angeschuldigten gewisse Verteidigungsrechte, unparteiische Untersuchung der ihn betreffenden Tatbestände, Zeugeneinvernahmen und kontradiktorische Verhandlung, dann dem Verurteilten das Recht auf Berufung oder auf Wiederaufnahme des Verfahrens (Revision) zu.
Je nun – es steht uns in der Schweiz kein Recht zu, uns darob allzulaut zu entrüsten. So lange wenigstens nicht, als wir im eigenen Lande ähnliche Einrichtungen dulden, die viel älter sind als die Konzentrationslager des politisch aufgewühlten Auslandes.
Nämlich zwei Drittel sämtlicher Insassen unserer Korrektions-, Arbeits- und Zwangserziehungsanstalten bestehen aus „administrativ“ Enthaltenen, dagegen höchstens ein Drittel aus gerichtlich gesetz- und regelmässig Verurteilten. Zu den widerrechtlich Freiheitsberaubten wären ferner noch zu rechnen eine grosse Anzahl der Insassen unserer Irren- und Armenanstalten, die sich praktisch in wirklich allzu vielen Fällen als eigentliche Dauergefängnisse erweisen, da ihre „Pfleglinge“ ebenfalls ohne ausreichende Rechtsgrundlage und kontradiktorische, unparteiische Beurteilung gewährleistende Untersuchung ihrer Fälle auf Jahre hinaus, ja auf Lebenszeit einfach unwiderruflich versenkt werden.
Dass dabei nicht bloss die unglaublichsten Missgriffe, die rohesten, gröblichsten Willkürakte, verbunden mit unmenschlichen Grausamkeiten, möglich und üblich sind, sondern dass damit auch das Ansehen der ordentlichen Strafrechtspflege bis zu ihrer gelegentlichen Verunmöglichung erschwert, jeglicher gesellschaftlich aufwertende Strafvollzug schlechthin vereitelt wird, ist dabei noch nicht einmal das Schlimmste, wird aber von allen einsichtigen Strafrichtern, Staatsanwälten und Strafvollzugsbeamten längst diskussionslos anerkannt. Denn dazu gesellt sich noch erschwerend, dass die Opfer der sogenannten Administrativjustiz samt ihren Angehörigen sehr häufig unrettbar sowohl moralisch als rechtlich und bürgerlich einfach vernichtet werden und dass dadurch das normale Rechtsbewusstsein unseres Volkes auf die Dauer unheilbar erschüttert wird, gerade in einer Zeit, wo dieses Rechtsbewusstsein ohnehin sozusagen täglich den schwersten Belastungsproben unterstellt wird.
Warum aber wird die „Administrativjustiz“ geübt und geduldet?
Von Staats und Gemeinde wegen zunächst aus rein finanziellen, lukrativen, dann aber aus Gründen der Bequemlichkeit und aus Abfertigungsbedürfnis. Von der öffentlichen Meinung aber lediglich darum, weil sie sich von der Tragweite der administrativen Willkürjustiz keine Rechenschaft abzulegen vermag, da deren Opfer einfach mundtot sind.
Was unter solchen Voraussetzungen alles möglich ist, grenzt ans Unerhörte. Es gehört zum Empörendsten, das man sich überhaupt vorzustellen vermag. Ein Staat, der eine derartige „Administrativjustiz“ gutheisst und pflegt, setzt damit sein Ansehen als Rechtsstaat gröblich aufs Spiel.
Die „Administrativjustiz“ im vorumrissenen Sinne ist übrigens als solche und an sich verfassungswidrig. Denn der Artikel 4 der Bundesverfassung bestimmt:
Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Ortes, der Geburt, Familien oder Personen.
Durch die Administrativjustiz aber gibt es eigentliche, jeglicher Willkür unterstellte, jeglichen Rechtes auf alle Zeiten hinaus beraubte Staatssklaven.
Artikel 58 der Bundesverfassung bestimmt ferner:
Niemand darf seinem verfassungsmässigen Richter entzogen und es dürfen keine Ausnahmegerichte eingeführt werden. Die geistliche Gerichtsbarkeit ist abgeschafft.
Die Administrativjustiz aber ermöglicht den Freiheitsentzug bis zur Lebenslänglichkeit Hunderter, ja Tausender von Schweizer Bürgern und Einwohnern, denen die verfassungsmässige Rechtssicherheit, von ihrem ordentlichen Richter beurteilt zu werden, einfach willkürlich versagt und unterschlagen wird.
Man sollte denken, die Opfer würden, sei es durch gerichtliche Klagen, sei es vermittels staatsrechtlicher Rekurse, in die Möglichkeit versetzt, sich dennoch ihre gerichtliche Beurteilung zu erzwingen. – Irrtum! Das ist praktisch darum unmöglich, weil zur Anhebung eines Gerichtsverfahrens eine gewisse Mindestsumme Geldes und elementare Rechts- und Prozedurkenntnisse gehört. Die Opfer der Administrativjustiz aber rekrutieren sich fast ausnahmslos aus der besitzlosen und rechtlich meistens durchaus ungebildeten Bevölkerung. Aber auch wenn dem anders wäre, so würden ihre Rechtsbegehren ordnungsgemäss gerade über die Behörden geleitet, die ihre Einweisung und Enthaltung auf administrativem Weg verfügt, daher durchaus keinen Grund haben, diese Verfügung richterlich beleuchtet, beurteilt oder gar aufgehoben zu sehen. Selbstverständlich wird derartigen Petenten die Wohltat des Armenrechtes immerdar verweigert.
Es stellt sich daher die Frage, was gegen die Administrativjustiz und gegen die Übergriffe der sich ihrer bedienenden Behörden praktisch vorzukehren sei.
Eigentlich sollten die vorerwähnten Bestimmungen der Bundesverfassung zur Behebung der Missstände genügen. Da sie aber gegenüber den Enterbten nicht gehandhabt werden, empfiehlt es sich, der Bundesverfassung eine regelrechte Habeas-corpus-Akte einzugliedern, die sinngemäss etwa zu lauten haben würde:
„Niemand darf verhaftet oder seiner Freiheit beraubt werden, es wäre denn infolge eines begründeten Beschlusses der zuständigen richterlichen Behörde oder er wäre bei der Begehung eines Verbrechens oder eines Vergehens auf frischer Tat ertappt worden.
Widerhandlungen gegen diese Bestimmung sind in allen Fällen von Amtes wegen strafrechtlich als Freiheitsberaubungen zu ahnden, unbeschadet der sich daraus abzuleitenden zivilrechtlichen Folgen.“
Nun darf man sich keinen Augenblick verhehlen, dass eine derartige Bestimmung, die doch zu den Gewährleistungen eines der elementaren Menschen- und Bürgerrechte gehört, auf den erbitterten Widerstand sowohl vieler Gemeinden als namentlich kantonaler Behörden stossen wird, da sie, wie berührt, ein durchaus nicht unwesentliches geldliches Interesse am Fortbestand der administrativen Justizmorde aufweisen, die sie beschönigend „Versorgungen“ zu benennen belieben. Nichtsdestoweniger wird der Kampf unausweichlich aufgenommen und früher oder später zu einem erfolgreichen Ende geführt werden müssen. Denn davon hängt nicht bloss die wichtigste Gesundungsmöglichkeit unseres Anstaltswesens im allgemeinen fast ausschliesslich ab, sondern namentlich auch, was immerhin nicht eben unwesentlich ist, der Ruf der Schweiz als eigentlicher Rechtsstaat.
Dass aber die sogenannte „Administrativjustiz“, ob auch verfassungs-
widrig, dennoch unentbehrlich und ihre Aufhebung praktisch undurchführbar sei, wie etwa auch schon behauptet wurde, ist einfach nicht wahr. Nicht nur gab es auch in der Schweiz Zeiten, wo wir ihrer trefflich zu entraten vermochten, sondern es gibt heute noch Länder, die ohne diese rechtsmörderische, willkürliche Vergewaltigung und Rechtsunsicherheit vortrefflich gedeihen.