1950
Die strafrechtliche Abschreckung.
In. Emmenthaler Blatt, Langnau, Nr. 116, 06.10.
Jegliche Strafe, die bloss als Wiedervergeltung, Sühne, oder auch ausschliesslich als gesellschaftliche Sicherheitsmassnahme verhängt wird, muss als gedankenlose, ebenso unbillige als vernunftwidrige Roheit abgelehnt werden. Sie erreicht nämlich lediglich, das vom Rechtsbrecher verübte Unrecht zu vermehren, besonders wenn sie, was allzu häufig der Fall ist, durch ihre Härte den vom Rechtsbruch verursachten Schaden nicht bloss um ein Erkleckliches übertrifft, sondern ihn und damit das ihm zugrunde liegende Unrecht verewigt.
Der zu Unrecht oder über Gebühr unbillig Bestrafte wird dadurch in eine hartnäckige Trotzeinstellung, Verzweiflung und Rachsucht gedrängt, die ihn, wie die Erfahrung tausendfach beweist, unwiderruflich entehrt, entwürdigt, entmannt, oder ihn, oft geradezu zwangsbedingt, dem Rückfall in den Rechtsbruch ausliefert. Strafen, die von den damit Belegten weder verstanden, noch als billig empfunden werden, tragen unfehlbar dazu bei, sie zum Gewohnheitsverbrechertum zu drängen, womit die gesellschaftliche Sicherheit ebenso dauergefährdet, als die von ihnen Betroffenen, oft rettungslos verdorben werden.
Je härter, grausamer die Strafen, je höher die Kriminalität ! Die sogenannte A b s c h r e c k u n g s t h e o r i e, laut welcher die Härte, Grausamkeit und Schwere der Strafen die noch Unbescholtenen von Straftaten abhalten sollen, hat, abgesehen von Einzelfällen, die moralisch durchaus nicht immer hoch zu veranschlagen sind, immer und überall versagt. Es hat sich im Gegenteil erwahrt, dass dort, wo sie allzu leichtfertig, allzu reichlich verhängt werden, die Kriminalität in gleichem Verhältnis zu ihrer Anwendung ansteigt.
Zur Zeit des aufstrebenden Christentums im römischen Kaiserreich wurde von der Regierung zwar nie der christliche Glaube als solcher, an und für sich, verfolgt und geahndet; denn in religiöser Hinsicht erwiesen sich die alten Römer als bemerkenswert duldsam und klug. Aber das Bekenntnis zum Christentum galt ihnen zu Zeiten als Verbrechen gegen die Sicherheit und den Weiterbestand des Staates. Nur als solches wurde es verpönt und wurden seine Anhänger verfolgt. Das Ergebnis war, dass sich Tausende zum Märtyrium geradezu herbeidrängten, in einem Ausmass, das sogar hervorragende Bischöfe und Kirchenväter nötigte, sich dagegen zu verwahren. Das hinderte jedoch nicht, dass die Kirche aus dem Blute der Märtyrer erwuchs und im 4.Jahrhundert zur römischen Staats-und Reichsreligion erhoben wurde, womit die Auflösung des Reichs besiegelt ward. Ähnliches ist im Mittelalter, zur Zeit der Ketzer- und Hexenverfolgungen festzustellen. Je härter, je grausamer Ketzer und Hexen verfolgt, gefoltert und verbrannt wurden, desto mehr breiteten sich Ketzerei und Zauberei aus. So erlebte man noch im 17:Jahrhundert im damaligen bernischen Hoheitsgebiet auffällige Ausbrüche mystischer, ansteckender Seuchen. Vom 17.Januar 1615 bis zum 24.Juni wurden allein 21 Hexen und Hexenmeister dem Scheiterhaufen überantwortet. Im darauffolgenden Jahre sind es deren 27, und 1642, vom 16.Mai bis zum 1.November, sind es ihrer 21. Die offensichtlich ansteckende Geisterverirrung dauert bis tief ins 18.Jahrhundert hinein, dann erlischt sie allmählich unter dem Einfluss der enzyklopädistischen Aufklärung auf die Regierungen, obwohl sich der Hexenwahn bis in unsere Tage in gewissen Volksschichten immer noch erhalten hat. Da er aber nicht mehr strafrechtlich geahndet wird, ist er nachgerade der Lächerlichkeit anheimgefallen und daher ordentlich harmlos geworden.
Im 19.Jahrhundert noch wirbt die Strafgerichtsbarkeit drakonisch, ob auch durchaus ungewollt, für die Verbreitung gewisser religiöser Sekten (Antonianer, Heilsarmee,usw.), und noch in unseren Tagen haben wir erlebt, dass sich die Zahl der „Zeugen Jehovas“, infolge der gegen sie ergriffenen behördlichen Massregeln, rasch vermehrte.
Niemand wird ernsthaft behaupten, es sei dadurch die Sicherheit der Gesellschaft gefestigt oder die Kriminalität vermindert worden.
Es hat sich im Gegenteil erwahrt, dass beispielsweise die öffentlichen Hinrichtungen mit ihren einstmaligen, qualifizierten Todesarten, ja, dass die Todesstrafen überhaupt, k e i n e r l e i abschreckende Dauerwirkung zu zeitigen vermochten. Die Schwerverbrechen waren in den acht Kantonen, die vor dem Inkrafttreten des Schweizerischen Strafgesetzes am 1.Januar 1942 die Todesstrafe noch beibehalten hatten, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eher zahlreicher als in den übrigen Kantonen.
Das rührt daher, dass die alten kantonalen Strafgesetze wohl den Delinquenten und den Verbrecher, nicht aber das Delikt und das Verbrechen, und zwar am allerwenigsten vorbeugend, bekämpften.
Erst das Schweizerische Strafgesetzbuch bot und bietet endlich, auf dem ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft, die Möglichkeit, nicht bloss die Kriminalität wirksam einzudämmen, sondern namentlich auch die Rechtsbrecher wirklich zu bessern, sie durch vernünftige, zwecksichere Nacherziehung und Ertüchtigung zum mindesten zu zwei Dritteln nachträglich als vollwertige, erwerbs- und steuerfähige Bürger der Gesellschaft wieder einzugliedern. Das ist umso begrüssenswerter und billiger, als diese selbst, handelnd und leidend, an den von jenen begangenen Rechtsbrüchen meistens mitverantwortlich und beteiligt ist.
Aus dieser, heute nicht mehr abzuweisenden Erkenntnis heraus gebieten sowohl Vernunft als rein gesellschaftliche und wirtschaftliche Nützlichkeitserwägungen unserem Volke, sich mit der Tragweite, dem Sinn und Geist unseres nunmehr positiven Strafrechtes stets vertrauter zu machen. Schon darum, weil auch das beste Strafgesetz wirkungslos bleibt und bleiben muss, solange sich der Strafvollzug seinen Bestimmungen nicht durchaus anpasst und unterordnet. Dazu aber ist dem Schweizervolk bloss noch eine Frist bis zum 1.Januar 1962 eingeräumt.
Es ist daher allen Einsichtigen dringlich geboten, diese Frist möglichst auszunützen, auf dass unser ganzes Volk der von unserem Strafgesetzbuch nunmehr ermöglichten Rechtswohltaten teilhaftig, gesellschaftlich gesicherter, moralisch gehobener werde.