1905
Bümpliz und die Welt
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Vorwort
Die Aufsätze, welche hier unter dem Titel Bümpliz und die Welt geboten werden, sind ursprünglich als Leitartikel im Berner-Boten erschienen. Persönliche Freunde und ehemalige Leser des Blattes haben mir den Gedanken nahe gelegt, eine Auswahl davon in Buchform zu veröffentlichen. Hier ist sie.
Bümpliz (b. Bern), im Herbstmonat 1906
Der Verfasser
Moralkrämer
Im lachenden Gewande eines alltäglichen Zeitungswitzes fanden wir letzter Tage neue Nahrung zu einem alten Groll gegen die Leute, welche wir kurzerhand Moralkrämer nennen. Ein unverbesserlicher Trunkenbold stand vor einem amerikanischen Richter, in einem der Staaten, welche die Trunkenheit als solche bestrafen. Der Richter ließ es nicht bei der bloßen Verurteilung zu einigen Tagen Haft bewenden, sondern fühlte sich verpflichtet, dem Sünder recht väterlich ins Gewissen zu reden und sagte unter anderem auch folgendes: «Siehst du, mein lieber Jim, wenn du, statt dein Geld zu versaufen, es beiseite gelegt hättest, so wärest du heute ein wohlhabender Mann und besäßest ein hübsches Vermögen von wenigstens 10 000 Dollars.» Darauf Jim: «Sehr richtig, Herr Richter! Aber ich frage Sie, was würden mir dann die 10 000 Dollars nützen, wenn ich nicht trinken dürfte?»
Ohne gerade dem Laster der Trunksucht, welchem der gute Jim frönte, das Wort reden zu wollen, muß ich doch anerkennen, daß Jim und nicht der Richter recht hatte, indem er sich mit seinem Gelde einen, wenn auch fragwürdigen Genuß verschaffte, vorausgesetzt freilich, daß Jim darob keine Familien- oder sonstige Pflichten vernachlässigte. Wenn das Trinken wirklich sein größter Lebensgenuß war und er auf ehrliche Weise sein Geld zu diesem Genuß erst verdiente, dann war Jim ein Lebenskünstler, ein Philosoph, und sein Richter ein langweiliger Pedant, ein Moralkrämer. Ein Moralkrämer, der recht viele Brüder hat. Und diesen tut es im Herzen weh, wenn sie einen sehen, der sein Leben genießt auf seine Weise, der rückhaltlos fröhlich ist und sich der Zukunft wegen nicht allzuviele graue Haare wachsen läßt. Ich weiß solche Brüder, die einem den Genuß einer Zigarre, eines Mahles, eines schönen Bildes, eines interessanten Buches durch die langweilige Frage zu vergällen wissen, ob man sich denn nicht für das dafür aufgewandte Geld etwas besseres hätte leisten können, wäre es auch nur das gewesen, statt es auszugeben, es zinstragend anzulegen. – Oder die Not der leidenden Mitmenschen zu lindern. Die, welche so sprechen, sind gerade die Schlimmsten, wenn es ans Geben geht und das ist begreiflich – wer für sich selbst nichts übrig hat, der hat auch für andere nichts, und wer sein Vergnügen daran findet, anderen allen und jeden Genuß zu vergällen, moralisch zu verbittern, von dem darf man doch schlechterdings nicht erwarten, daß er für die Not ein warmes und fühlendes Herz habe. Ich habe noch immer gesehen, daß der Sorglose fröhlich und ohne Hintergedanken gibt; daß der Moralphilister es nicht über sich bringt, eine Freude zu bereiten, von der er sich von vornherein ausgeschlossen fühlt. Er empfindet keine reine Freude, der Moralkrämer, und darum ist er zu bedauern, und noch mehr zu bedauern ist seine Umgebung, welche er überzeugen möchte, daß er Recht habe, daß wir nur da seien, um Geld zu verdienen und es an den Zins zu legen, daß der größte Genuß im toten Besitze bestehe. Der Mensch aber hat ein angeborenes Recht auf Lebensfreude und Genuß, das ihm nicht verkümmert werden soll. Sonst pfeif ich überhaupt auf das Leben. Man könnte sich höchstens über die Form dieses Genusses streiten, wenn nicht der Streit an sich genußwidrig wäre. Immerhin wird der objektive Beobachter jeweilen die überraschende Erfahrung machen, daß der raffinierteste Genußmensch eigentlich am wenigsten Bedürfnisse, ich meine materielle, grobsinnliche kennt. Die Kunst des Lebens heißt doch eigentlich genießen. Je weniger der Mensch an äußerem Beiwerke, an materiellen Hilfsmitteln zu der denkbar größten Potenz des Genusses bedarf, je weiter hat er es in der Lebenskunst gebracht, denn es offenbart sich in der Lebenskunst dieselbe Regel, welche jeder andern Kunst als Fundamentalgesetz gilt, nämlich – daß der Künstler um so vollendeter ist, als er schafft, als er sich des bleischweren Beiwerks entledigt, als er aus voller Seele schöpft. Darum kommen uns die Moralkrämer so unendlich kleinlich vor, weil sie jedes künstlerischen Genius bar sind und daher neideln. Sie neideln, weil sie im tiefsten Grunde ihrer Seele fühlen, daß der andere, der genießt, eigentlich doch recht hat, glücklicher als sie selbst zu sein. Sie neideln, weil sie nicht wie er aus dem Vollen schöpfen können, weil sie sehr genau fühlen, daß ihnen die geniale Ader der Lebenskunst abgeht. Da bemängeln und nörgeln sie eben und versuchen einem weis zu machen, daß das höchste Glück auf Erden eigentlich die höchste Askese sei. Sie ahnen gar nicht, wie recht sie haben, indem sie diesen Satz aufstellen, denn es fällt ihnen nicht ein, sich klar zu werden, daß die Askese, welche glücklich macht, eben Genuß, Genuß der seligen Freiheit ist. Weil sie nicht wie der ideale Genußmensch die Materie bis zu ihrer Entbehrlichkeit zu beherrschen vermögen, müssen sie notgedrungen tyrannisieren, pygmäenhaft und ekelhaft. Sie müssen Gesetze aufstellen, welche sie Moralgesetze nennen, und welche nur dazu da sind, um die um sie herum sprudelnde und schäumende gesunde Sinnlichkeit einzudämmen und zu ersticken. Wer diese Gesetze nicht beachtet, der ist nach ihren herrlichen Begriffen unmoralisch und verdient ausgestossen zu werden aus ihrer reinen Gesellschaft. Da haben sie wiederum ganz recht, denn nur der von unsern Moralkrämern Ausgestoßene weiß zu würdigen, wie göttlich viel schöne Genüsse ihm seine Neider gerade dadurch boten, indem sie ihn aus ihrem Kreise ausschlossen.
Aber diese Ausgestoßenen haben eine heilige Pflicht, welche ihnen Genuß ist, und das ist die, die Freude am Leben, die Lust an Schönheit und Wahrheit und Recht zu wecken, sich gegen die Moralkrämer zu verbinden und ihnen den Krieg aufs Messer zu erklären, sie zu besiegen in frischem, fröhlichem Kampf. Sie können und sollen es, denn es ist ihnen Lust, die kräftigen Glieder in der Sonne der Freude zu dehnen und zu recken und zuzugreifen, kräftig und lachend, da wo veralteter Schmutz ihr Lustgefühl beleidigt. Ich meine, da wo es sich handelt, einen aschgrauen Moralkrämer aus seinem dumpfen Trödlergewölbe heraus an die Sonne zu zerren und ihn recht kräftig zu schütteln, daß der Staub in alle Winde fliegt, da sollen wir zugreifen, da ist Götterlust!
Es sagte mir einst ein geistreicher Mann, der erste Moralkrämer sei der gewesen, welcher entdeckte, daß sein Nachbar schöner sei als er, da habe er die Kleidung erfunden, und mit der Kleidung jene Scham, die uns zu der abgeschmackten Prüderie führen konnte, Gott in seiner Schöpfung unsittlich zu erklären. Und ich glaube, er hatte recht, mein geistreicher Freund.
Gesetz und Moral
Du frommer, nie erfüllter, nie zu erfüllender Wunsch, du luftige Schimäre der «moralischen Gesetze», wirst du denn nie aufhören zu spuken in den Häuptern der Phantasten, der Idealisten?
Was hat denn das Gesetz mit der Moral zu tun? Nichts? Rein nichts! Und wohl uns, daß wir das zu erkennen vermögen.
Oder bist du ein Wolf im Schafspelze, du frommer Wunsch? Suchst du nach Gesetzen, welche einer, aber nicht der Moral entsprechen? Es kann doch nur eine Moral geben, eine unabhängige, nie veränderliche, will sie Anspruch erheben auf Autorität über die Gewissen. Diese einzige, richtige Moral muß leicht faßlich, jedem zugänglich sein, sonst ist sie eine, aber nicht die Moral. In ihr muß ein oberster, unantastbarer, zu allen Zeiten und an allen Orten gültiger Grundsatz enthalten sein, dessen Befolgung die Glückseligkeit der Individuen bedingt. Gibt es keinen solchen Grundsatz, dann gibt es ebensowenig Moral. Aber es existiert ein solcher Fundamentalsatz der Sittenlehre; sein Geist ist der der absoluten Moral und er lautet: «Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!» Bedarf es eines Beweises, um darzutun, daß seine Befolgung alles enthält, was zum höchstmöglichen Glücke der Menschen von Nöten ist? Daß uns seine praktische Anwendung der Notwendigkeit, Gesetze zu machen, überheben würde? Allein wir geben uns Gesetze und beweisen damit, daß wir zu klein sind, um moralisch zu leben, darum schaffen wir ein Surrogat, klammern uns an einen Ersatz. Wir geben uns Gesetze und finden uns auf bequemem Wege mit den Forderungen der Moral ab, und gerade indem wir uns Gesetze geben, beweisen wir unsere und ihre Immoralität. Nein, Gesetz und Moral haben nichts miteinander gemein! «Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!» So gebietet die Moral und zielt in letzter Linie auf individuelles Glück, welches potenziert das Glück der Allgemeinheit bedeutet. «Befolge mich, auf daß du lebst!» So gebietet das Gesetz und sein Ziel ist der allgemeine Nutzen. Die Moral erstrebt ein rein geistiges Gut, das Glück und das Gesetz ein rein materielles, den Nutzen. Die Moral enthält eine Lehre, das Gesetz eine Maßregel. Beide sind unvereinbar, denn die Lehre setzt Willensfreiheit, die Maßregel Knechtschaft, blinden Gehorsam voraus. Und wenn sie es versuchen, Moral und Gesetz, sich zu gemeinsamer Anstrengung die Hand zu reichen, dann muß sich das eine zur Verleugnung seines Wesens, zu einer Konzession zu Gunsten des andern herablassen. Es entgeistigt sich entweder die Moral und dann hört sie auf, Moral zu sein, oder es entmaterialisiert sich das Gesetz, und seine Wirkung ist nicht mehr die des allgemeinen Nutzens, sondern bedeutet eine Hebung individuellen Glücks.
Seine Wirkung wird, wie die jedes Gesetzes, die Allgemeinheit einengen; das liegt in seinem Charakter und dagegen ist nichts einzuwenden; allein, verquickt mit der Moral wird es die Interessen des Einzelnen fördern und wird dadurch der Allgemeinheit gegenüber ungerecht. Aus der Verquickung der beiden Begriffe, die unvereinbar sind, des Nutzens und des Glücks, geht das Ausnahme-, das Klassengesetz hervor. An derselben Verquickung der Begriffe geht die Moral zu Grunde, und es entsteht eine Moral, eine Aftermoral, eine Herrenmoral. Ihr Gesetze, ihr seid die furchtbare Strafe dafür, daß wir Menschen nicht moralisch zu leben vermögen! Ungerechte Gesetze sind nur Ausnahme- und Klassengesetze. Also gerade die, welchen nebenbei noch eine moralische Tendenz zugrunde liegt. Das ehrliche Gesetz der reinen Nützlichkeit, welches nicht über das Gebiet hinaus greift, welches ihm sein Charakter selbst vorschreibt, kann weder moralisch noch unmoralisch sein, denn es ist in seinem Wesen etwas Grundverschiedenes, Gegensätzliches. Will man es unmoralisch nennen, weil es nichts mit der Moral gemein hat, so ist also die Moral ungesetzlich. Die Beobachtung beweist, wie richtig diese Vermutung ist. Denn die Moral gebietet allein über die Gewissen. In ihrem erhabenen Namen darf ich meinem Mitmenschen kein Leid antun, befiehlt sie mir doch, ihn zu lieben wie mich selbst. Im Namen des Gesetzes muß ich, meinem Gewissen zum Trotz, unter gegebenen Umständen meinen Mitmenschen töten. Weigere ich mich dessen, dann straft mich das Gesetz, weil ich moralisch lebe. Und umgekehrt! Wenn ich es mir angelegen sein lasse, dem Gesetze zu gehorchen, verdammt mich da nicht die Liebe gebietende Moral? Kann ich aus dem Dilemma herauskommen, meine Bürgerpflicht erfüllen und mein Gewissen befriedigen?!
Wie soll ich mich abfinden mit den beiden sich widerstreitenden Verantwortungen, von denen ich keine abzulehnen vermag?
Besteht mein Leben nicht aus lauter Kompromissen zwischen meiner Menschenwürde, meinem Weltbürgertum und der Gesetzesehrlichkeit, dem Staatsbürgertum?
Wo finde ich einen Ausweg, eine Hilfe? Wenn ich gesetzesehrlich handle, so verfehle ich mich gegen meine Bestimmung als Mensch, ich sündige und bedarf der Vergebung, der Erlösung! Ich habe mich gegen die Moral, gegen mein Gewissen vergangen, bereue und tat doch meine Pflicht! Soll ich mich nicht darum kümmern? Mich ganz der Gesetzeserfüllung widmen und Moral Moral sein lassen? Das wäre ja noch ärger als das erste. Dann sinke ich zum Gesellschaftsautomaten herab, dann verdiene ich die Nützlichkeitsgesetze, dann bin ich kein Mensch mehr und verzichte freiwillig auf meine Würde, auf meine Individualität! Oder soll ich in der Religion Trost und Hilfe suchen? Aber die Religion ist ja selbst verstaatlicht und leidet unter dem Druck der Gesetze. Ein religiöses Fühlen des Menschen ist nicht mehr sein Verhältnis direkt zu Gott, sondern sein gesetzlich reglementiertes und sanktioniertes Verhältnis zur Kirche, der rein gesellschaftlichen Institution, welche einem möchte glauben machen, sie sei auf Gott gebaut! Oder soll ich mich um das Gesetz nicht kümmern? Nur meinem Gewissen leben? Das hieße auf mein Recht auf Existenz verzichten. Das hieße das Martyrium suchen. Fürwahr ein schönes Los, wenn damit der Menschheit gedient würde! Wenn ich damit der großen Masse einen Dienst erwiese und sie von dem Druck des Gesetzes befreite. Aber die Masse bleibt stumpf und lacht, wenn der Edle sich für sie zu Tode rackert. Und wenn ich das tue, vergehe ich mich nicht wiederum gegen das Gebot der Moral: «Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!» Kann der Tote lieben? Oder ist die Menschheit nur wert getötet zu werden? Denn indem ich meine Existenzberechtigung verleugne, verleugne ich auch die meiner Mitmenschen, die ich lieben soll wie mich selbst.
Nein! Das ist es alles nicht! Nur einen Ausweg gibt’s und der heißt Kampf gegen den Druck des Gesetzes innerhalb seiner eigenen Schranken. Wir müssen moralisch werden, um der Gesetze entbehren zu können. Indem wir dem Gebote der Moral gehorchen, müssen wir das unsrige tun, daß auch unsere Mitmenschen des Gesetzes nicht mehr bedürfen und frei werden. Durch nie erlahmende Erziehung anderer und vor allem unserer selbst müssen wir den gesetzlichen Kampf gegen das Gesetz kämpfen, müssen ihm stückweise seine Herrschaft entreißen und an seine Stelle die Moral setzen, die in dem Satze gipfelt: «Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!»
Bildung?
Wer noch ein wenig Sinn für die nationale Eigenart unserer Volksstämme hat, für das ehrliche, gemütvolle, wenn auch raue Bauerntum, ist auf die Bildung, wie man sie gegenwärtig auf dem Lande immer mehr züchtet, nicht gut zu sprechen.
Die Städter haben sich so lange über uns Landleute lustig gemacht, uns vorgeworfen, wir seien jeder Bildung bar, daß wir die Sache endlich aufs «Puntenöhri»* nahmen und uns mit Teufelsgewalt zu bilden begannen.
Wir haben keinen Augenblick nach dem Wesen wahrer Bildung gefragt; in echter «Bauerntäubi»** gingen wir ans Werk, schickten unsere Kinder in die westschweizerischen Schnellbleichen und in Saisonstellen, ließen ihnen Klavier-, Mal-, Singunterricht geben, Servicekurse mußten absolviert werden, und uns kam nie der Gedanke, daß das, was wir für Bildung hielten, eigentlich nur städtische Lebensart war, welche in unsere bäurischen Kreise paßte wie das feine, zierliche Landauergeschirr unsern Ackergäulen.
Es ist schon bedauerlich, um nicht zu sagen eklig genug, den Städter affektiert, geziert, automatisiert zu sehen; aber er hat wenigstens die Entschuldigung für sich, darin aufgewachsen, das Produkt einer durch äußere Formen beherrschten und verseuchten Gesellschaft viel mehr als das der Natur zu sein. Aber wir Landleute! Wir, die wir auf der harten Scholle geboren wurden, welche durch unsere Arbeit befruchtet und mit unserem Schweiße gedüngt wird; wir, deren Lebensweise sich den natürlichen Verhältnissen, der Witterung, der Temperatur und des Klimas anpassen muß, wollen nicht zugrunde gehen; wir haben diese verfeinerten Sitten, die sogenannte gesellschaftliche Bildung, welche einige fade Städter über die Inhaltslosigkeit ihres prunkenden Nichtstums hinwegtäuscht, nicht nötig; im Gegenteil, sie schaden uns, weil sie uns gleich ihnen verweichlichen, uns untauglich machen zu der ich will nicht sagen schwereren, aber doch härteren und produktiveren Arbeit, zu der wir nun einmal von Natur wegen geboren sind.
Ja! Wenn wir mit dem Halbleinkittel gleichzeitig unsere Abstammung, unsere Bedürfnisse, unsere ganze Lebensweise und Lebensnotdurft auszuziehen vermöchten, dann, ja dann wäre es ein ander Ding.
Aber auch mit dem zierlichen Landauergeschirr angetan bleibt der Gaul, der am Pfluge erzogen und am Mistwagen trainiert wurde, eben ein schwerer, unbeholfener Klepper, aus welchem nie ein Rennpferd, ein Vollblut wird. Gerade das feine Geschirr läßt seine natürliche Schwerfälligkeit noch besser erkennen. In seinem gewöhnlichen, seiner Art und Arbeit angemessenen Geschirr konnte man ihn schwerfällig und unbeholfen finden, ohne ihm deshalb die Achtung zu versagen, welche seine zähe Arbeitskraft abnötigte. Im feinen Luxusgeschirr darf er diese Kraft nicht zum Ausdruck bringen, es hindert ihn an dem, zu welchem es eigentlich dienen sollte, an der Arbeit, an der natürlichen Bewegung, denn er riskiert immer durch einen unvorsichtigen Tritt das feine Zeug zu zerreißen, und die stete Angst macht ihn viel steifer und bejammerungswürdiger, als er je vorher war, am Pfluge oder am Mistwagen. Gerade durch das feine Geschirr sinkt er zum Gegenstande des Spottes herab; gerade durch die sogenannte Bildung verliert der Bauer sein natürliches Selbstbewußtsein. Das mühsam angelernte Komplimentmachen ist ihm zuwider wie dem Gaul das feine Geschirr; durch das ewige «Auf-sich-selbst-Aufpassen», um ja keinen gesellschaftlichen Verstoß zu begehen, wird er nervös, unsicher, lächerlich.
So weit sind wir glücklich gekommen, daß wir uns unserer ländlichen Abstammung schämen, keinen Sinn mehr haben für unsere durch das Leben wohlbegründeten und schönen Sitten; ja, wir erniedrigen uns so weit, selber darüber zu spotten und merken nicht, welch erbärmliches Zeugnis wir uns damit ausstellen.
Wir Bauern galten sonst für einen Schlag von ehrlichen und aufrichtigen Leuten, welche sagen durften, was sie dachten und, was mehr ist, den Sinn ihrer Worte nicht hinter gedrechselten Phrasen zu verbergen gewohnt waren. Aber seitdem wir uns diese «Bildung» angeeignet haben, machen wir lauter moralische Kratzfüße und lügen schon wie jeder anständige Kosmopolit.
Weil man uns gesagt hat, es sei unfein, den Fisch mit dem Messer zu essen, wollten wir beweisen, daß wir uns diesen Fundamentalsatz der Anstandslehre zu eigen gemacht; deshalb essen wir möglichst viel Fische und verschmähen die dem heimischen Boden entsprossene Kartoffel.
Der Kern, welcher unser Volk in seinen historischen Zeiten groß und kräftig machte, war immer das unverfälscht bäurische Element. Das stolze und trutzige Staatsgefüge der alten, wehrfesten Republik Bern ruhte auf den kräftigen Schultern echter Bauern. Damals waren wir groß. Jetzt sind wir Hanswurste geworden, Salonbauern, die ihre Rauheit abstreiften, um sich mit Anstand der Roheit zu ergeben.
Es gab eine Zeit, wo das Landvolk stiernackig da stand, wie aus Stein gemeißelt, den man zur Seite schieben mußte, wollte man passieren. Heute kennen wir den guten Bauernstolz, in dem die Gewähr unserer Tugenden lag, nicht mehr; wir kriechen und scharwenzeln.
Wir haben unsere heimische Sprache gegen einen interkantonalen, nichtssagenden Dialekt verhandelt, der uns fremd ist, unser Herz und unsere Zunge verrenkt, den wir fallen lassen, wenn sich einmal unsere Seele regt.
Wir haben unsere brave, unsern Bedürfnissen und unserm Wohlsein angepaßte Kleidung in die Rumpelkammer geworfen und zieren uns mit fremden Fetzen, die uns kleiden wie den Hanswurst auf dem Jahrmarkt seine Narrenkutte kleidet, mit dem Unterschiede jedoch, daß sich der Hanswurst in seinem Kleide zu bewegen weiß.
Wir haben unsere Bauernkunst, die uns hochgeschwungene Häuser baute, die unsere Stuben währschaft und heimelig ausstattete, sie zum lieben, trauten Heim machte, verdrängt, um an ihrer Stelle fremden Zierrat, gleichgültige Marktware zu stellen, an der wir uns nie freuen, der wir nie jenen Kultus des toten Dinges widmen, der uns mit tausend Fesseln an die Einzelheiten der Heimat knüpfte.
Unser Volksgesang, jener wahre, herrliche Ausdruck der Freude und des Schmerzes unserer Seele, haben wir durch importierte Singerei ersetzt, haben so lange an unserm Volkslied, dem heimeligen, würzigen, herumgedrechselt und herumgedoktert, bis es zum namen- und seelenlosen Schemen wurde, der uns weder rührt noch begeistert.
Das sind die Segnungen, die uns die «Bildung» brachte! Wir haben alles geopfert, das uns früher unser bäurisches Dasein lebenswert gestaltete, haben unsere Freiheit des Denkens und Fühlens eingetauscht gegen leere, hohle Formen, und da sich das Gute in uns gegen den Handel auflehnte, sind wir, die wir Menschen waren, denkende und fühlende – Formenkrämer und Automaten geworden.
Ein glänzendes, flimmerndes Ding, ein Surrogat haben wir um teures Geld gekauft und meinten wunder, wir hätten das Gold der wahren Bildung, die uns zu besseren Menschen macht, eingehandelt. Was wir da an «Bildung» nannten, hat, Gott sei’s gesungen und gepfiffen, mit wirklicher, wahrer Bildung nichts gemein. Die wahre Bildung befreit uns, während die unsrige uns knechtete; die wahre Bildung besteht vor allen Dingen in der Ehrlichkeit und nicht in äußeren Formen, überlieferten Knixen, geschliffenen Manieren und Fragen der Etikette.
Die Bildung lernt sich auch nicht an, wie wir gewähnt haben, sondern sie ist eine Gabe der Natur und äußert sich in geradem Sinn, ehrlicher Denkart und – nicht zu vergessen –, in der souveränsten Verachtung der Äußerlichkeiten.
Die «Bildung» jedoch, die wir nun glücklich erreicht haben, ist das gerade Gegenteil, sie bedeutet die Tötung des Wahren, des Natürlichen im Menschen, heißt uns die Sache um der Form mißachten.
Friede!
Endlich Friede! Endlich wurde das erlösende Wort gesprochen; die ganze Menschheit atmet auf von dem drückenden blutdampfenden Träume, der zermalmenden Alb. Achtzehn Monate lang hielten sich die gewaltigen Gegner eng umfaßt im gigantischen Kampf und ließen der Mordlust freie Bahn. Dreihunderttausend Menschenleben wurden ausgeblasen wie Talglichter, wenigstens ebensoviele verkrüppelt und verstümmelt; tausende und abertausende von Familien beweinen ihre Väter, Gatten, Brüder, Söhne; zwei große Reiche sind erschöpft, können nicht mehr – wissen, daß die Fortsetzung des grausamen Mordens ihren Untergang bedeutet und reichen sich widerstrebend und voll hinterlistiger Berechnung die von warmem Menschenblute noch triefende Hand zum Frieden, den sie vor anderthalb Jahren ruchlos brachen, um einiger kleiner Vorteile willen, welche, an den Opfern des Krieges gemessen, ein Nichts bedeuten.
Die Tatkraft, die Menschenleben, die man geschont hätte, das Geld, das dieser heillose Krieg gekostet, hätten aus Japan auch zu Friedenszeiten eine führende Nation gemacht und mit der Hälfte der für den Mandschureifeldzug aufgewandten Opfer hätte sich das morsche Zarenreich zu einem Kulturstaate ersten Ranges entwickeln, sein Volk glücklich und reich statt arm und elend und geknechtet machen können.
Wegen eines Lappen Landes, das weder dem einen noch dem andern gehörte, ging das titaneske Ringen an. Anderthalb Jahre lang häuften sich in den trostlosen Feldern der Mandschurei Leichen auf Leichen, richteten sich im Todeskampfe verglaste Augen schrecklich gen Himmel, mordeten sich brave Leute, welche einander nie gesehen, nie gekannt, nicht einmal gehaßt hatten, im Namen des Gottes der Liebe, des Zaren und des Vaterlands! Und Gott wurde wieder angerufen von den Rechtgläubigen, er möchte zu diesem Morden seinen Segen geben. Er, der Gott der Liebe und des Erbarmens, möchte an der Blutschuld seiner Kreaturen teilnehmen und auch morden, für den Zaren und das heilige Rußland. Und der allgütige Gott, der Allerweltserbarmer, hat sich auch hier wie immer auf die Seite der stärkeren Bataillone geschlagen, und diese Bataillone bestanden diesmal aus Heiden. Wie wenig gilt doch die staatserhaltende, thronstützende Religion, wenn es ans Morden geht! Wie wenig jenes Christentum der Liebe, wenn es sich darum handelt, irdische Vorteile mit bewaffneter Hand zu erringen oder zu verteidigen! Und wie wenig hat ein Staat doch das Recht, von seinen Bürgern zu verlangen, daß sie religiös fühlen und denken, solange er Soldaten zum Massenmorde unterhält und züchtet. Ist da nicht die Staatsreligion die größte, entsetzlichste Blasphemie, die sich je ein Teufel ausdenken konnte? Und gibt es eine größere Sünde – nicht gegen den Gott, der immer den Stärkeren hilft und die Schwachen verbluten läßt –, sondern gegen Menschentum und Menschenrecht, als die, welche in der Organisation, dem Vorbedacht, der in der Institution der Armee, des Werkzeuges zum Morde ist, liegt?!
Dreihunderttausend faulende Kadaver! Ein Symbol, ein schreckliches Symbol der moralisch verfaulten Menschheit, die aus kaltblütig-grausamen Mördern besteht, die ihr Glück nach der Zahl der erschlagenen Nächsten wertet, die um so größer sich fühlt, als das Verbrechen, welches sie begangen, lauter gen Himmel schreit! Schande über die Menschen, welche die Kraft ihres Volkes in der brutalen Gewalt sehen und uns glauben machen wollen, die Vergewaltigung sei die Bedingung des Glücks; die Entfesselung der rohesten Kräfte bedeute die Grundlage des Fortschrittes. Mordgesellen seid ihr alle, die ihr die Menschheit um ihr herrlichstes Gut, den Frieden betrügt! Heuchler seid ihr, die ihr euch anmaßt, Gericht zu halten über den, der im einzelnen Falle übt, was ihr die Nationen lehrt: zu morden!
Bestien! Die ihr am grünen Tische über der Völker Schicksale zu entscheiden euch anmaßt, blickt dorthin, nach den blutgetränkten Gefilden des fernen Ostens; dort starben dreihunderttausend Männer, die ihr aufeinandergehetzt! Dreihunderttausend Leichen sind euer Lebenswerk! Bestien! Blickt um euch, in eurem eigenen Lande! Schaut die schwankenden kleinen Gestalten, wie sie abgehärmt und schwach durchs öde Leben schleichen, auf der Suche nach einem Stücklein Brot: Es sind die Kinder, denen ihr die Väter erschluget. Bestien! Seht die Prozession, die lange, unendliche von alten Männlein und Weiblein, deren Augen fast erblindet sind von langem Weinen, seht wie sie hungrig, müden Schrittes dem Grabe zuwanken: Es sind die Eltern, deren Söhne ihr erwürgtet! Bestien! Blickt dorthin, auf die humpelnde Menge, deren Masse sich langsam auf euch zu bewegt. Hört, wie ihnen jeder Schritt einen Schmerzensschrei entreißt. Blickt auf die verstümmelten Glieder, schaut die klaffenden Wunden, die siechen Gesichter! Es sind die Krüppel, die ihr vergaßet, fertig zu morden. Sie kommen und bitten euch, ihr möchtet ihnen den Gnadenstoß versetzen. Warum tut ihr’s nicht? Hier ist der Tod Wohltat – aber ja! Ihr wollt nicht wohltun, ihr wollt nur Leiden entfachen, Unglück verbreiten, ihr lächelnden Teufel in goldstrotzenden Uniformen, die ihr euch der Nationen Leiter nennt!
Ihr habt jetzt Frieden geschlossen. Um das zu erreichen, was ihr vor anderthalb Jahren mit geringen Opfern, mit einiger Nachgiebigkeit hättet haben können, habt ihr zwei Völker aufeinandergehetzt und sie beide, Sieger wie Besiegte, an den Rand des Abgrundes geführt, habt gemordet, bis ihr nicht mehr konntet, bis ihr ohnmächtig wurdet im Dampfe des Menschenblutes, im Verwesungsdunste von dreihunderttausend Leichen!
Und doch! Ihr allein seid nicht schuldig! Schuldig sind wie ihr die Massen, die ihr mordetet, die ihr zur Schlachtbank führtet. Wird es denn noch lange gehen, bis die Menschen euch erkennen werden in eurer wahren Gestalt, bis sie euch selbst die Suppen ausessen lassen, die ihr einbrockt? Sollte es denn wirklich nie anders werden, nie so weit kommen, daß die Völker ihr Selbstbestimmungsrecht wahren und sich nicht mehr leiten lassen von einer Handvoll Buschklepper und Raubmörder?
Sind die dreihunderttausend Brüder umsonst gestorben als Märtyrer des finstersten Wahnes, Verbrechern Gehorsam zu schulden? Oder wird diesmal das rote Blut, mit dem ihr die mandschurische Erde getränkt, sich in die Morgenröte der Befreiung vom Kriege und seinen gewissenlosen Urhebern verwandeln? Wenn dem so wäre, ja dann! – Dann wäre das unschuldige Blut dort im fernen Osten nicht umsonst geflossen, dann wäre Friede – Friede auf Erden!
Schöner, herrlicher Traum, du Traum des Friedens, der du die Menschheit auf die Gipfel der Vollendung führst, wie bist du noch so weit, so verschwommen – Friede!
Glaube!
Motto: Den ehrlichen Zweifler hat Gott lieb!
Als blutjunger Mensch las ich einmal eine kleine Parabel, welche mich auf Monate hinaus beschäftigte. Ein Atheist, der sein Leben lang an der Existenz Gottes gezweifelt, und aus seiner Überzeugung nie Hehl gemacht hatte, war gestorben und erschien nun vor dem höchsten Richterstuhl. Da erkannte er seinen Irrtum und verzweifelte. «Verdamme mich, Herr! Ich sehe, du bist, und ich habe dich immer verleugnet!» Da lächelte sein Richter milde und sprach: «Gehe ein zu der ewigen Freude. Du hast mich immer verleugnet, das ist wahr; aber du tatest es aus ehrlicher Überzeugung und hast mir damit nichts angetan. Das ewige Feuer ist nur da für die, welche meinen Namen auf den Lippen führen, ohne mich zu kennen, ohne meinen Willen zu tun.» Und der Atheist ging zur ewigen Wonne ein. Dies ungefähr war der Sinn der Parabel. An den Wortlaut freilich vermag ich mich nicht mehr zu erinnern. Es kommt auch nicht darauf an. Es handelt sich lediglich darum, ob wir das Recht haben, einem Menschen das Urteil zu sprechen, weil er glaubt oder nicht glaubt. Denn was heißt «glauben»? Glauben heißt, mag man es nun zugeben oder nicht, etwas für wahr halten, für das man keine Beweise hat. Glaube ist eine Sache des bloßen Willens, eine Knechtung des Verstandes, der Denkfähigkeit zugunsten des Gemütes, der Bequemlichkeit. In dieser Bequemlichkeit vielleicht liegt das Beseligende des Glaubens. Haben wir das Recht, einem den Prozeß zu machen, weil er bequem oder nicht bequem ist? Danach frägt niemand. Wir tun es aber alle. Die einen sagen: Weil du nicht glaubst, bist du verloren. Weil du nicht glaubst, bist du ein schlechter, ein verworfener Mensch. Du maßest dir an, mit deinem kleinen Verstande den großen Gott, das Weltall zu umspannen, du kühner Lästerer, dir gehört ewige Verdammnis! Die anderen wiederum sagen: Weil du glaubst, bist du ein Schwachkopf. Denn wenn Gott ist, wenn er uns schuf, dann gab er uns den Verstand, die Erkenntnis; dann gab er uns das Recht, zu forschen und zu denken! Ist’s unsere Schuld, wenn uns sein Geschenk zu seiner Verneinung führt? Nein! Kein gerechter Gott kann uns darum verdammen, nur ihr, die ihr glaubt, lästert Gott, indem ihr ihn so beschränkt denkt, wie ihr selber seid. Ihr selbst seid die Schlechten, die Verworfenen, die Teuflischen, weil ihr dumm seid, weil ihr zu bequem seid, um zu denken, weil euch die Überlieferung, das Hergebrachte, lieber ist als die selbsterrungene Erkenntnis – euer Glaube ist keine lebendige Kraft, ist keine Überzeugung, die euer Handeln leitet, sonst würdet ihr nicht richten und nicht verdammen – euer Glaube ist ein weiches Faulbett, und faul seid ihr, da ihr uns nie Werke des Glaubens zeigt.
So wird hin und her gesprochen und geschrieben, Ketzerfeuer werden angezündet. Um einen Gott, den man sich als die Verkörperung der Liebe denkt, wird gezankt und gestritten und keiner der Streitenden bedenkt, daß der wahre Ring die Macht hat, den, der ihn trägt, den Menschen liebenswert zu machen, indem er die Liebe ist. Wir haben es ja so gut. Wir haben aus dem unfaßbaren Gott eine soziale Einrichtung gemacht, wir haben ihm Gebäude angewiesen und haben ihm Diener bestellt, haben den lebendigen Gott, der in jedem Menschen schlummert, erstickt, um an seine Stelle einen Schemen, gut genug für den Sonntag, zu setzen. Wo Gottespflicht ruft, erfüllen wir Bürgerpflicht, und darum hat sich Gott, ich meine das Prinzip der Liebe, die nicht hadert, die verzeiht und duldet, nie bei uns eingebürgert. Denn die Liebe, welche Gott ist, läßt sich ebensowenig wie die Schönheit, die auch Gott ist, ebensowenig wie die Wahrheit, die auch Gott ist, genossenschaftlich, und wäre es von Staates wegen, weder mit noch ohne Monopol ausbeuten. Wir haben den Gott, der einen Teil unseres Selbst bilden sollte, außer uns gesetzt, haben ihm einen besonderen Platz in unserem Recht, in unserem Leben, das er durchdringen sollte, angewiesen, wir haben ihn in uns getötet, indem wir ihn zu einer höheren Polizeibehörde, deren Agenten die bezahlten Diener Gottes sind, erniedrigt. Soll er wieder in uns lebendig werden, soll der Glaube, dem man die Seligkeit nachrühmt, wieder eine wirkliche Kraft, eine belebende und befruchtende werden, dann wird es an der Zeit sein, die Form zu sprengen, in die wir Gott um unserer Bequemlichkeit willen eingeschlossen haben, dann muß man diesem Gott wieder gestatten, mit uns direkt, mit dem einzelnen zu verkehren, dann müssen wir die Mauer brechen, die wir zwischen ihm und uns aufrichteten. Wollen wir das nicht, dann haben wir kein Recht zu klagen über den Mangel an Glauben. Denn an was sollen wir glauben? An die Kirche, die wir selbst geschaffen haben, die nichts mehr und nichts weniger ist als die Institution eines Gesetzes, welches abzuändern jederzeit in unserer Macht steht? An die Diener der Kirche, welche unsere Diener sind, wie die Kirche unser ist? An die Geistlichen, welche wir besolden und die uns nicht von Gott reden würden, besoldeten wir sie nicht? Oder an die höhere Polizeigewalt, die wir dem nach unserer Art zugerichteten Gott zuschreiben? Statt Gotteshand sehen wir doch stets nur das, was man seine menschlichen Werkzeuge nennt. Oder an einen Gott selbst, der zu einem Allgemeingut entwürdigt wurde, der sich dazu hergeben muß zu segnen, was er selbst verbietet? Der da sagt: «Du sollst nicht töten!» und die, welche töten, segnet, ihnen hilft, sie zum Siege führt? Sollen wir an den Gott glauben, der spricht: «Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe» und der von den Seinen angerufen wird, wenn es sich um die Bestrafung eines Sünders handelt? Wir sollen glauben an einen Gott der Milde und Freundlichkeit, der Liebe und Gerechtigkeit, in dessen Namen das Schlimmste vollbracht wird, das menschliche Grausamkeit, menschliche Gemeinheit je ausgesonnen haben? An einen Gott, der in dem Schwachen mächtig ist und nur zu den Mächtigen sein gnadenreiches Ohr neigt?
Sagt es selbst, die ihr uns Vorwürfe aus unsern Zweifeln macht: Glaubt ihr denn an einen solchen Gott? Und wenn ihr daran glaubt, ist euer Glaube nicht die größere Entweihung, die entsetzlichere Lästerung seines Seins als unser Leugnen? Ehren wir ihn nicht mehr, indem wir ihn verneinen, als ihr, die ihr ihn auf diese Weise bejaht?
Nein! Was ihr uns da sagt, das kann kein Glaube sein, der selig macht. Denn dieser Glaube schafft keine Wunder, und Seligkeit ist Wunder. Der Wunder größtes ist die Liebe. Wer liebt allein ist gläubig; wer liebt allein hat Gott. Uns fehlt weder die Kraft noch der Wille zum Glauben, das Wunder fehlt uns, das Wunder der Liebe, die nicht richtet, die nicht zürnt, die duldet und erträgt, begreift und ergründet, die Liebe, bei der es keinen Zwiespalt geben kann zwischen Verstand und Gemüt, weil beide einander bedingen und fördern. In dieser Harmonie der Liebe, die Schönheit, Wahrheit, Intelligenz, Vernunft – Gott ist; da ist das Wunder – da ist Ehrlichkeit – da ist unser Glaube!
Freiheit
Freiheit! Ein schönes, erhabenes Wort, das für uns Schweizer, die wir uns gerne schmeicheln lassen, unser Land sei ihre Wiege, noch einen ganz besonders erhebenden Klang hat. Freiheit – ein herrliches Wort, das aber, wie übrigens alle schönen und herrlichen Worte, seinem Schicksal nicht entgeht, dem Schicksal verschiedener, persönlicher Deutung und Mißdeutung.
Fragt ihrer Hunderte, Tausende, wenn’s euch nicht zuviel Mühe macht, nach dem, was sie für Freiheit halten, und hundert, tausend Antworten werden euch zuteil, und schließlich klingt jede dieser Antworten in jenen Liedanfang aus, der da sagt: «Freiheit, die ich meine!»
Schließlich kommt man so sachte zu der Einsicht, daß die vielgepriesene Freiheit nichts wesentlich anderes ist als ein Sammelbegriff für alles mögliche; daß sie nichts anderes bedeutet als ein Wort, ein gutes deutsches Wort als Ersatz für ein lateinisches – den mehr oder weniger ausgesprochenen Egoismus.
Die Freiheit, die man preist, ist ein Schemen, ein duftig gewobenes Märchen, und wenn man es mit rauher Hand an die Tageshelle der Wirklichkeit zerrt, so bleibt gar nichts mehr übrig als ein ferner, blasser Dunst, und auch der verschwindet gar bald in des Himmels leuchtendem Blau.
Und doch! Das Streben der Edelsten aller Zeiten war ein Streben nach Freiheit, nach jener holden, vom Erdenelend erlösenden Märchenfee, ein Sehnen nach Befreiung von lastenden Banden. Und weil jeder Mensch sich in irgendeiner Richtung in seinen Bewegungen gehemmt fühlt, weil er seiner Ohnmacht inne wird, so nennt er das Freiheit, was ihn entlastet, ihm größere Beweglichkeit, weitere Entfaltung seines Selbst zu versprechen scheint. Der Begriff der Freiheit ist also ein durchaus subjektiver, und es zeugt von einem großen Mangel an Logik, wenn man sich unterfängt, ihn anders als individuell zu deuten, wenn man von ganzen Völkern behauptet, sie seien frei.
Man versteht freilich darunter nur eine teilweise, beschränkte Freiheit; die politische zum Beispiel. Ein Volk jedoch, das sich selber Gesetze gibt, sich selber seine Behörden wählt, sich selbst regiert, ist deswegen noch lange kein freies Volk, nicht einmal ein politisch freies Volk; wenigstens so lange nicht, als es sich nicht sein Selbstbestimmungsrecht bis in die äußersten Nebenfragen zu erobern und dieses Recht praktisch durchzusetzen wußte. Denn, vergessen wir nicht: Die Freiheit duldet keine Knechtschaft, aber auch keine Herrschaft. Die absolute Freiheit eines Volkes wäre ein Zustand seligster Anarchie, in dem es keine Gesetze gäbe, weil sie überflüssig wären. Nicht Herrschaft begehren, aber sich auch von niemandem beherrschen lassen, das ist der Begriff der vollen, idealen, absoluten Freiheit, das ist auch der Begriff des ganzen Glücks.
Es gibt Leute, welche an eine Zukunft der Freiheit, jener unbegrenzten, absoluten und beseligenden, glauben. Das Christentum nennt jene ferne Zukunft der Seligkeit auf Erden das goldene Zeitalter, das Millennium; andere nennen es Anarchie. Und alle Befreiungsversuche der einzelnen und der Völker waren im Grunde genommen nichts anderes und werden nie etwas anderes sein als ein Streben nach der Verwirklichung jenes goldenen Zeitalter der Anarchie. Vor hundert Jahren haben die Franzosen im Namen der Freiheit Ströme Blutes vergossen, haben das, was für sie damals als Freiheit galt, mit dem Schwerte in der bluttriefenden Faust über ganz Europa verbreitet, haben Hunderte und Tausende befreit, wirklich befreit, indem sie sie vom Leben der Unfreiheit befreiten, und herausgekommen ist, was wir die politische Befreiung nennen, eine klägliche Karikatur des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen. Und doch war dieser Schritt notwendig als eine Vorstufe zu einem ferneren Schritte, zu jener ökonomischen Befreiung, wie sie heute der Sozialismus anstrebt und zu verwirklichen sucht. Und wenn es dem Sozialismus einmal gelingt (und es wird ihm gelingen), seine Ideale durchzusetzen, dann werden sich neue Menschen zu neuen Gruppen finden; der heute noch so weitgehende Sozialismus wird eines Tages als ebenso reaktionär verschrien werden wie das seinerzeit so fortschrittliche, revolutionäre Bürgertum heute verschrien wird.
An Stelle der Sozialdemokratie wird eine andere, vielleicht anarchistische Partei das Banner des Fortschrittes zur Befreiung hochhalten, und endlich einmal, in noch unendlich ferner Zeit, wird die Menschheit dazu gelangen, durch die Arbeit von Jahrtausenden, jenes Millennium zu erreichen, das Zeitalter, in dem es weder Befehlende noch Gehorchende mehr gibt. Sie wird sich reinigen von den Schlacken der Gesetze und wird endlich einmal moralisch, gut werden und die Gesetze, diesen Ausdruck der Unfreiheit, nicht mehr brauchen. Das liegt in der Entwicklung der Dinge. Ob wir sie nun anerkennen oder nicht, ob wir uns dagegen sträuben oder nicht, wir werden die ehernen Räder der Zeit weder aufhalten noch beschleunigen können, denn es gibt keinen Fortschritt außerhalb dem ewigen Kreislauf der Dinge, und der allein ist Fortschritt, Schritt zur Freiheit.
Nur was gut ist, ist frei!
Allein, was nützt uns kurzlebigen Staubgebornen eine Freiheit der Verheißung in fernen Jahrtausenden? Was frommt es uns, in ein herrliches Land der Zukunft schauen und dabei wissen zu müssen, daß wir es nie betreten werden? Was soll uns eine glückliche Menschheit in weiter Ferne, der wir nicht angehören werden?
Diese Gedanken wären dazu angetan, uns zu verbissenen Pessimisten und Weltverächtern zu machen, hätten wir nicht ein recht einfaches Mittel an der Hand, uns persönlich, jeder für sich, schon während unserm Leben das Glück dieser für die Gesamtheit noch so fernen Freiheit zu erringen. Frei ist der Mensch, wenn er nur will; wenn er nur den Mut hat, es zu sein, wenn er nicht herrscht und nicht begehrt zu herrschen. Darin liegt das ganze Geheimnis der Freiheit und ihres Glückes. Denn sobald der Mensch herrscht, wird er geknechtet, sobald er sich zum Sklaven entwürdigen läßt, wird er Tyrann.
Zur Freiheit und zum Glück braucht’s nur den Willen, mehr nicht. Die äußeren Verhältnisse, die Zufälligkeiten des Lebens, welche uns unsern bestimmten Platz in der Gesellschaft anweisen, sind von der Freiheit, die mit uns geboren, völlig unabhängig. Äsop war ein Sklave, und doch vielleicht der freiste Mensch seiner Zeit – weil er sich nicht von den Äußerlichkeiten des Daseins, von seinen unzähligen Erscheinungsformen beherrschen ließ, sondern sich erlaubte, sich selbst zu sein.
Sich selbst sein! Darin liegt’s! Sich nicht beeinflussen lassen von dem, was alle sagen, alle tun, alle für gut oder für schlecht finden. Keinen höhern Richter anerkennen als die eigene Erkenntnis, das eigene Gewissen. Sich selbst sein! Nicht den Autoritäten glauben, und ständen sie auch auf noch so hohen Piedestalen; sich selbst die größte, einzige Autorität sein. Das mag nun verteufelt anmaßend klingen; aber es klingt nur so, denn es erlaubt uns, denen, die uns stolz und verwegen nennen, Kärrnerdienste zu leisten und dennoch von ihnen unabhängig zu sein, weil wir unsere Freiheit in uns tragen, weil sie uns niemand rauben kann; weil wir, vermöge dieser erhabenen Freiheit, jenseits von all dem stehen, was sie, die Unfreien, unsere Meister und Herren, gut oder böse nennen.
Jenseits von gut und böse – das ist die Freiheit. Freiheit??? – Das ist der Tod! Darum ist der Tod Glück, das Glück!
ZIVILISATION
Es geht nichts über klangvolle Worte. Schlagworte, zünftige und zügige. Wer deren ein halbes Dutzend besitzt und sich ihrer mit Geschick zu bedienen weiß, dem tun’s hundert Kruppkanonen nicht gleich. Alles läßt sich mit solchen Worten schlankweg totschlagen und begraben, und wer’s nicht glaubt, je nun, dem wird eben so ein Wort an den Kopf geschmissen, bis er umfällt. Patriotismus ist ein so braves Wort, und Freiheit ist auch eins, und Moral ist auch so ein Wort, das tausende von Menschenleben gekostet hat, und Zivilisation, das ist auch so ein Wort. Mit dem hat man schon mehr Leute unter den Boden gebracht als mit allen Maximgeschützen der Welt zusammen.
Gott helfe mir, ich kann nicht anders; ich muß lachen! Lachen aus vollem Halse, wenn ich immer und immer wieder Leute allen Ernstes sagen höre, es sei unsere höchste Aufgabe, unserer Zivilisation überall Eingang zu verschaffen und sie zum Siege zu führen, die europäische Zivilisation, die uns auf eine so hohe Kulturstufe gebracht.
Hat da letzthin in einem kleinen Neste Spaniens eine große internationale Konferenz stattgefunden, die sich mit der Zivilisation von Marokko beschäftigte. Haben Sie gelesen? – Ja? Dann haben Sie gemerkt, daß die Zivilisation vor allen Dingen eine Polizeifrage ist. Dann brauche ich nicht weiter zu erklären. Dann kann ich mich in die Lage des zivilisierten Marokkaners versetzen, der sich in der ungewohnten Umgebung ein wenig dumm vorkommen mag. Begreiflich, der arme Marokkaner muß erst in die Zivilisation eingeführt werden wie alle andern wilden (!) Völker, die sich unsere Zivilisation angeeignet haben.
Also, bis jetzt wurde der Marokkaner geboren, und man betrachtete diese Tatsache lediglich als ein Familienereignis. Der zivilisierte Marokkaner aber wird wissen müssen, daß er nicht zur Welt kommen darf, ohne sich den staatlichen Organen des Zivilstandes ordnungsgemäß anzumelden. Die Zivilisation beginnt bei der Geburt des Marokkaners. Bis jetzt durfte er ungescheut an seiner Mutter Brust liegen, aber die zivilisierte Marokkanerin wird ebensogut wie die Europäerin erkennen, daß diese Methode, Kinder zu nähren, denn doch eine sehr primitive ist, und wie ihre europäische Schwester wird auch sie bald Mittel und Wege gefunden haben, sich des Jungen zu entledigen, sei es, indem sie ihn durch eine Amme füttern oder mit Galaktina-Kindermehl aufpäppeln läßt. Und der kleine Marokkaner, der bis jetzt herzlich wenig wußte von dem Zwange der Bekleidung, dem wird die Zivilisation schöne Höschen und Röcklein und Käpplein bringen, sie wird ihn waschen und desinfizieren, und der kleine Marokkaner wird die Masern und den Keuchhusten, die Diphtherie und das Scharlachfieber kriegen wie der kleine Europäer auch. Und wenn einmal die Zeit gekommen ist, dann, kleiner Marokkaner, dessen Vater in deinem Alter noch fröhlich sich mit den Füllen auf den Steppen herumtrieb, dann wird man dich in die Schule schicken, und dort wirst du manch langes Jahr deiner goldigen Jugend drangeben müssen, um rechnen und lesen und schreiben zu lernen, um dir die Befähigung zu erringen, nicht mehr wie deine Vorfahren ein freies Beduinenleben zu führen, sondern in irgend einer Fabrik 3.50 Franken pro Tag zu verdienen. Und wenn du der Schule entwachsen bist, mein junger Marokkaner, dann erkenne die Segnungen der Zivilisation, die nicht genug für dich tun kann, dann kannst du noch die Fortbildungsschule besuchen, kannst du noch Mitglied des marokkanischen Lehrlingsvereins werden und deine freien Stunden dran setzen, um englisch, französisch, deutsch, zeichnen usw. zu lernen. Zum Reiten und Tummeln freilich bleibt dir dann keine Zeit mehr, und überdies, mein lieber, junger Marokkaner, wäre das sträflicher Luxus. Die Zivilisation lehrt dich arbeiten und für dein täglich Brot sorgen, das du ohne sie auch ungesorgt bekommen hättest. Und wenn du einmal deine Lehrzeit absolviert hast, mein lieber, junger Marokkaner, und eine Stelle gefunden, die dich zehn oder mehr Stunden täglich an denselben Platz und dieselbe eintönige Beschäftigung bindet, dann mein Lieber, wirst du soviel verdienen, das du notdürftig dein Leben fristen kannst, und grau und öde werden die Tage an dir vorüberschleichen und du wirst allgemach im eintönigen Alltagsleben versimpeln wie die Europäer auch. Aber die Zivilisation sorgt auch dafür, daß du der Aufregung nicht entmangelst. Deine Ahnen, mein lieber Marokkaner, galten für ein tüchtiges, in jeder Kunst bewandertes Volk. Wehe dem, der ihnen zu nahe trat, der wurde zermalmt. Das ganze Volk erhob sich gegen ihn und im Namen Allahs des Großen und Einzigen führtet ihr blutige Kriege, begeistert verblutetet ihr unter dem Zeichen des Halbmondes. Wenn du aber erst einmal zivilisiert bist, mein lieber Marokkaner, dann brauchst du dich nimmer für dein Vaterland, das du nur am Sonntag siehst, zu begeistern, und man wird dich mitten im Frieden zum Waffendienste heranziehen, wie die Europäer auch. Und wenn du dann findest, mein lieber Marokkaner, das frühere Marokko sei schöner gewesen, jenes Marokko, in dem du noch frei warst, ein Herr der Oase, die Milch der Kamelstuten trankst, jenes Marokko sei noch der Verteidigung mit deinem Herzblute wert gewesen, mein lieber Marokkaner, wenn du so denkst, dann bist du ein Antimilitarist, ein vaterlandsloser Geselle, dann bist du nicht würdig der europäischen Zivilisation. Mein lieber Marokkaner, du siehst es, noch steht dir eine große Zukunft bevor. Noch hast du die europäische Zivilisation vor dir, gebe dir Allah, daß du sie überleben mögest. Uns Europäern hat sie nun bald den Garaus gemacht. Darum exportieren wir sie und suchen sie unschuldigen Naturvölkern anzuhängen. Wir haben sie den Kongonegern angehängt, aber die dummen Kerls merkten gar nicht, welch schönes Geschenk wir ihnen darbrachten und sind zu dumm, auch den Namen der Zivilisation richtig auszusprechen, sie nennen sie «Syphilisation». Oder ist am Ende ihre Aussprache die richtige?
Wir jedenfalls haben’s herrlich weit gebracht mit der Zivilisation. So weit, daß wir nächstens daran zugrunde gehen werden. Es gibt nämlich keinen Unsinn, den sie uns nicht gebracht, keine Seuche, die wir nicht ihr verdankten, kein Laster, das nicht ihr Produkt, kein Verbrechen, das nicht ihre logische Folge wäre.
Beweise gefällig? Zu Befehl! Die Zivilisation lehrt uns folgenden Unsinn für wahr anzuerkennen: Wer einen Menschen beglücken will, der bereite sich vor, ihn zu morden. Das sagt nun die Zivilisation nicht, meint ihr. Na, was ist denn das anderes als derselbe blanke Unsinn, der uns jeden Tag aufs Brot gestrichen wird und der heißt: Wer Frieden will, bereite den krieg vor! Dieser Unsinn der Zivilisation kann höchstens dem Gehirn eines Armeelieferanten entsprungen sein, aber er hat ziemlich tief Wurzeln geschlagen. – Seuche! Eine Folge der Zivilisation? Denkt an die Aussprache der Kongoneger und sagt, wo anders als dort, wo zivilisiert wird, kommt die Seuche vor, in Gesellschaft von Bibel und Schnapsflasche? – Laster? Ein Produkt der Zivilisation? Denkt an die Prostitution und sagt ehrlich, seid ihr jemals auf sie gestoßen anderswo als dort, wo unsere hochgepriesene Zivilisation Trumpf ist? – Verbrechen? Logische Folge der Zivilisation? Auch nicht wahr, vielleicht? Na, der Kannibale, der nicht zivilisiert ist, der tötet, um zu fressen, nicht wahr? Wir, wir töten aus Freude am Töten, aus «Patriotismus»! Wer steht höher, der hungrige Kannibale oder der satte Zivilisierte, der aus Lust mordet? Welches ist Verbrechen?
Manuel hatte so unrecht nicht, als er vor nun mehr denn fünfzig Jahren schrieb:
«Nur Zivilisation! Doch wenig Geist und Gesinnung;
Alles von außen schön, innerlich hohl und gefäult!
Wahrlich, es zeigt die heutige Zeit viel blendenden Flitter,
der viel Blöße bedeckt, manche Geschwüre verhüllt,
Münzen von schlechtem Gepräg und zweifelhaftem Metalle,
Unter dem dünnen Gold graues und schmutziges Zinn!
Also prahlen wir stets mit hoher Kultur und Gesittung,
Aber aus jeglichem Ritz schaut der Barbare heraus.»
RADIUM
Schwein muß der Mensch haben! Sintemal und alldieweilen sogar die Gelehrten Menschen sind, wenn auch mitunter recht verschrobene, so machen sie keine Ausnahme von der Regel. Ihre größten Errungenschaften sind meistens Zufälle, glückliche Zufälle. Der alte Berchthold Schwarz suchte eine neue Wagenschmiere herzustellen und erfand bei der Gelegenheit das überaus wohltätige Schießpulver, mittelst welchem seither ganze Generationen in ein besseres Jenseits befördert wurden. Darum wird seine Erfindung allgemein anerkannt und sein Geist als der eines der größten Wohltäter der leidenden Menschheit gepriesen. Vater Kolumbus setzte sich eines schönen Tages in den Kopf, ein bißchen nach Indien zu fahren, um sich dort mit der damals in Europa noch unbekannten Kartoffel zu verproviantieren, da kam ein Seesturm und warf ihm den Kompaß über Bord und statt nach Osten fuhr er nach Westen. Bei der Gelegenheit hat er dann Amerika entdeckt und wird seither als einer der scharfsinnigsten Kerls gepriesen, welche die Menschheit je hervorbrachte. Er vergrößerte freilich seinen Ruhm damit, daß er der erste war, der kein Ei legte, sondern stellte, und darin besteht unseres Erachtens sein unermeßlich großes wissenschaftliches Verdienst. Alles andere ist Schwein, unverschämtes zufälliges Schwein, welches sich sogar soweit ausdehnt, daß man ihm dieses Schwein als besonderes Verdienst zuschrieb. Die Beispiele lassen sich vermehren. Als Vater Jan van Eyck einst mit seiner besseren Hälfte eine kleine Auseinandersetzung wegen des Monatsgeldes hatte, warf ihm diese die Ölflasche an den Kopf, damit er sich selbst überzeuge, wie sparsam sie mit der köstlichen Flüssigkeit umgegangen sei. An van Eycks dickem Schädel zersplitterte die Flasche, und das Öl ergoß sich in verschiedene, gerade bereit liegende Farben, welche der geizige van Eyck nicht übers Herz brachte wegzuwerfen, sondern er malte ganz ruhig damit weiter. Und da die Geschichte nicht ganz schief kam, so gilt er der Nachwelt als der außerordentlich scharfsinnige Erfinder der Ölmalerei. So ging es übrigens immer. Wäre im grauen Altertum Papa Archimedes nicht von einem herumziehenden Naturheilkundigen beschwatzt worden, gegen sein Zipperlein es einmal mit Wasser- und Luftbädern zu probieren, so hätte er, als er den Badekasten nach dem Gebrauche leerte, seinen Grundsatz, der noch heute seinen Namen trägt, nicht auf dem Grunde des Wassers gefunden, und er hätte es nicht nötig gehabt, das darauffolgende Luftbad bis in die belebtesten Straßen von Syrakusa auszudehnen.
Wie man sieht, Gelehrsamkeit ist nichts, Schwein ist alles. Auch die Neuzeit liefert uns Beispiele zur Genüge. Hätte Darwin an jenem Abend nicht so fürchterlich gezecht, so hätte er am andern Morgen den Affen im Menschen nicht entdeckt, als er sich im Spiegel beschaute, und seine Abstammung des Menschen wäre ungeschrieben geblieben.
Dabei gibt es aber Gelehrte, welche wirklich etwas schaffen und schöne Theorien, welche man wissenschaftlich nennt, aufstellen. Diese Theorien sind dann so lange Fundamentalwahrheiten, an denen kein Mensch zweifeln darf, will er nicht für einen ungebildeten und rückständigen Tropf gelten, bis wieder einer kommt, der weniger schafft, aber das bekannte Schwein hat. Der setzt sich nun rittlings auf sein Schwein und rennt in einer Stunde alle die mühsam aufgebauten Theorien über den Haufen, und ungebildet ist dann der, welcher dem raschen Ritte des Schweines nicht nachkommt. So hat man uns zum Beispiel in der Schule von Elementen erzählt, von chemischen Elementen, welche ganz besondere Eigenschaften haben und in denkbar kleine Bruchteile theoretisch zerlegt werden, und diese Bruchteile nannte man Atome. Man schwor auf die Atome, denn damals waren sie unveränderlich wie die Ewigkeit selber. Unveränderlich und unteilbar. Jedes Atom symbolisierte gewissermaßen einen ebenso unveränderlichen als unteilbaren Urstoff, ein Element. Himmel, was wir uns in der Schule mit diesen Atomen und ihren Eigenschaften abgequält haben!
Nun kam wieder einmal ein Mann, welcher Schwein hatte. Die Dummen haben bekanntlich immer das größte Glück. Kommt da ein französischer Professor und läßt Uran auf photografischen Platten liegen, welche dadurch belichtet wurden. Ein Amateur, der etwas auf seine Platten und deren Reinheit hält, hätte sich diese unverzeihliche Dummheit nie zuschulden kommen lassen. Nun gut! Weil diese Platten belichtet, also für ihren eigentlichen Zweck kaputt gemacht wurden, wurde der ungeschickte Amateur ein berühmter Mann. Becquerel heißt er. Denn an diese seine Ungeschicklichkeit in der Behandlung photografischer Platten schloß sich die Entdeckung des Radiums an, des Radiums, mittelst welchem bewiesen wurde, daß die ganze, mühsam in der Schule angelernte Atomtheorie Mumpitz sei. Die ewig unveränderlichen und unteilbaren Atome konnten plötzlich zerlegt und umgemodelt werden wie aus einem Klotz Buchenholz ein Holzschuh gemacht wird. Da haben wir uns gefragt: «Heiliger Sebastian! Warum zum Teufel sind wir denn zur Schule gegangen, warum haben wir so manchen schönen Nachmittag im Arrest zugebracht, weil wir diese verflixten Atome und Elemente nicht auseinander halten konnten, wenn sich nun doch nachträglich alles als plumper Schwindel erweist? Gott verzeihe meinen Lehrern, daß sie mich so angelogen haben und mich noch straften, weil ich ihre Lügen nicht kapierte.»
Herr und Frau Curie haben uns seither bewiesen, daß es nur einen und nicht etliche Dutzend Urstoffe gibt, und dieser einzige Urstoff ist vorläufig das Radium. Ich sage vorläufig, denn etwas Gewisses weiß man nicht. Immerhin haben die kommenden Generationen von Schülern alle Ursache, Herrn und Frau Curie dankbar zu sein, denn unsere Jungen brauchen wenigstens nur einen Urstoff auswendig zu lernen, während wir deren, wie gesagt, etliche Dutzend kennen mußten. Welches die Wirkungen, die Eigenschaften des Radiums sind, das haben wir an anderer Stelle* so lichtvoll, als es unser dunkler Gehirnkasten gestattete, auseinandergesetzt. Wir erwähnten damals einen Vorfall, welcher dem guten Herrn Curie passierte, als er mit seinem neuentdeckten Radium nach London fuhr und der unsere «Schweinmußdermenschhabenstheorie» bestätigt. Wir erzählten, wie ihm das Radium, welches er in der Westentasche trug, durch Schachtel und Metallhülse und Kleider durch die Haut verbrannte. Das war sein, nämlich Curies Glück und machte seine Entdeckung noch vollständiger, indem man seither diese Eigenschaft verwertet, um dem Krebs, vom gemeinen Flußkrebs bis zum Magenkrebs, den Garaus zu machen
Ramsay, ein Engländer, hat uns dann eben bewiesen, was ich schon oben sagte, nämlich, daß die Geschichte mit den Atomen ein furchtbarer Bär, den man uns jahrelang aufgebunden hat, sei, indem er Uran (ein Element) in Helium (ein anderes Element) oder Bieressig in Bremsenöl vermittelst Bestrahlung von Radium verwandelte. Der Grund zu der im Mittelalter so sorgfältig gesuchten Goldmacherkunst war somit gelegt, und heute handelt es sich lediglich darum, die geeigneten technischen Mittel ausfindig zu machen, um eine an eine Schnur aufgezogene Kette von Roßkastanien in ein kostbares Geschmeide umzuwandeln. Eine Kleinigkeit, wie man sieht. Es handelte sich jetzt nur noch darum, vermittelst dem Tausendsassa von Radium auch noch das andere Problem, welches sich die Alchimisten des Mittelalters stellten, nämlich das der Erzeugung von organischem Leben, zu lösen. Dazu gehörte natürlich wieder einmal ein unverantwortliches Schwein, und ebenso natürlich ist es, daß gerade ein Engländer diese Schwein haben mußte. Die Engländer haben immer eben alles, und wenn sie’s nicht haben, dann nehmen sie es. Mr. John Buttler Burke (man merke sich den Namen, denn er wird einst unsterblich sein wie der aller großen Glückspilze) hatte die sonderbare Idee, sterilisierte Gelatine mit Radium zu bestrahlen, um zu sehen, was dabei herauskomme. Und zu seiner eigenen großartigen Verblüffung kamen lebende Organismen heraus, die fortpflanzungsfähig sind wie Maikäfer. Die ganze Lebensarbeit Pasteurs, welcher sich alle erdenkliche Mühe gegeben hat nachzuweisen, daß aus Anorganismen sich keine Organismen entwickeln können, wurde von diesem englischen Schwein einfach vernichtet; das Rätsel der organischen Welt ist gelöst und statt des lieben Herrgotts, welcher bis jetzt von den Engländern hochverehrt wurde, wenn sie gerade Zeit und nichts zum Stehlen hatten, werden sie jetzt Buttler Burke anbeten, dem es gelingt, je nach der Beschaffenheit der Gelatine und je nach der Stärke und Dauer der Bestrahlung mit Radium in einer Flasche entweder Wasserkürbisse oder Kongoneger zu erzeugen. Damit hat endlich der langweilige Streit über die Entstehung der Arten ein Ende. Wir wissen heute, daß, wie die verschiedenen Elemente durch verschiedenartigen Einfluß des Radiums entstehen, eben auch die verschiedenen Arten der organischen Lebewesen ihr Dasein und ihre Verschiedenheit nur dem Umstande verdanken, ob es der Urstoff Radium der Mühe wert hielt, sich mehr oder weniger mit ihnen zu befassen. Daß dadurch, ganz nebenbei und ohne viel Aufhebens die soziale Frage gelöst wird, ist selbstverständlich. Von dem Augenblicke an, wo wir aus jeder Lehmgrube ganze Zentner Gold gewinnen, wird die Kaufkraft dieses edlen Metalles natürlich annulliert; wir brauchen kein Geld mehr, weil es keinen Wert mehr hat. Und da Herr John Buttler Burke wahrscheinlich schon in der nächsten Woche anfangen wird, Pantoffelholz in Schweinehaxen umzumodeln, so wird in kürzester Zeit auch die Magenfrage zu allgemeiner Befriedigung gelöst werden. Dann bleibt nur noch die Frage der Liebe! Je nun, das Radium und das diesen Artikel wie ein roter Faden (ich mache mir eine Ehre daraus, meinen Lesern mitzuteilen, daß der rote Faden nicht ein Produkt meines erfinderischen Geistes ist) durchziehende Schwein, welches der Mensch haben muß, werden auch dafür Rat finden.
Verrohung der Jugend
Sporadisch auftretende Vorkommnisse lenken von Zeit zu Zeit die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf das, was in den Zeitungen und im Munde der Öffentlichkeit sich bereits zu einer bestimmten Formel kristallisiert hat, auf die Verrohung der Jugend. Man entsetzt sich dann wohl über einzeln auftretende Vorkommnisse; erschrocken schlagen die guten Leute die Hände über dem Kopf zusammen und entrüsten sich – um recht bald wieder zu vergessen, bis ein neuer Vorfall ihr Gedächtnis und ihre Entrüstung aus dem gesunden Winterschlafe aufrüttelt. Momentan sucht man sich vielleicht wohl Rechenschaft zu geben, woher die Roheiten kommen, und in der Regel begnügt man sich, die Ausbrüche tierischer Leidenschaften im Kindesalter der «mangelhaften Erziehung», der «erblichen Belastung» in die Schuhe zu schieben, als ob damit alles gesagt und alles getan wäre, um der moralischen Seuche der Verrohung entgegenzutreten. Und doch würde es keiner großen Gedankenarbeit bedürfen, um zu erkennen, daß die perverse Charakterbildung des Kindes, welche die Roheit bedingt, kein Resultat des blinden Zufalles, kein Ergebnis des unfaßbaren Fatums ist, sondern daß die Roheit beim Kinde aus ganz bestimmten Ursachen resultiert, welche zu beseitigen eigentlich die Aufgabe nicht nur des Pädagogen, sondern des Bürgers wäre, denn die Roheit bedeutet nicht eine bloß individuelle, sondern eine viel größere soziale Gefahr. Mit bloßen Beschwichtigungsphrasen wie die, das Kind sei grausam von Natur oder Jugend habe keine Tugend, kommt man nun einmal nicht darüber hinweg, denn es ist kaum faßbar, daß der Rohling als solcher geboren und nicht dazu erzogen wird.
Eine der ersten Ursachen zu der betrübenden Erscheinung jugendlicher Roheit liegt in der Vergewaltigung, in der rohen Behandlung des Kindes selbst. Ein roher Mensch wird rohe Kinder erziehen, das liegt in der Natur der Dinge und ist so selbstverständlich, daß es auszusprechen fast gleichbedeutend ist mit dem Abgrasen eines Gemeinplatzes. Und dennoch muß es immer und immer wieder gesagt werden. Es muß immer und immer wieder aufs neue darauf hingewiesen werden, daß der angebliche Hang zur Grausamkeit beim Kinde eine sekundäre Erscheinung ist, welche verblaßt gegenüber einer anderen Eigenschaft des Kindes, welcher im ganzen viel zu wenig Rechnung getragen wird, nämlich seinem außerordentlich feinen Gerechtigkeitsgefühl. Dieses, man darf hier fast sagen «angeborene» Gerechtigkeitsgefühl des Kindes verletzen ist gleichbedeutend mit der Erziehung zur Roheit und Gewalttat. Vom Augenblicke an, wo das Kind für etwas bestraft wird, das es selbst nicht als strafbar empfindet, wird das Gefühl in ihm rege werden, daß Gewalt über Recht geht, und es wird demgemäß handeln. Wohlverstanden, wir reden nicht von Handlungen, die wir als strafbar empfinden, die an sich strafbar sein mögen, sondern stellen uns durchaus auf den Standpunkt des Kindes, welches wohl als Wiegengabe der Natur ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl mit auf die Welt gebracht hat, dessen Unterscheidungsvermögen aber vor allen Dingen entwickelt werden muß, bevor wir das moralische Recht haben zu strafen. Das Kind muß das von ihm begangene Unrecht als solches empfinden, anders ihm die Strafe notwendigerweise als eine Vergewaltigung erscheinen muß. Die Art der Strafe selbst muß diesem Faktor Rechnung tragen, will sie einen wirklich heilsamen und nicht einen verrohenden Einfluß ausüben. Das Kind muß, wenn immerhin möglich, unter der direkten Konsequenz seiner Verfehlung leiden, es muß ein greifbarer Zusammenhang zwischen Verfehlung und Strafe stehen, eine logische Brücke, sonst hat sie keinen erzieherischen Wert und ist eine Roheit, zu welcher sich das Kind ebenfalls berechtigt sieht da, wo es die Macht und das Können hat.
Ich meine, es ist unsinnig, ein Kind zu prügeln, weil es gelogen hat, weil zwischen der Lüge und den Prügeln kein Kausalzusammenhang besteht. Denn in dem Falle wird das Kind lediglich deswegen bestraft, weil es sich ertappen ließ, nicht der moralisch schlechten Handlung wegen, deren Tragweite es in der großen Mehrzahl der Fälle nicht einmal empfindet. Wenn ein Kind impertinent lügt, so setze man bis auf weiteres ostentative Zweifel an die Wahrheit seiner Aussagen; man schenke ihm bei seinen alltäglichen Gesprächen offensichtlich keinen Kredit, dann wird es unter diesem Vertrauensmangel leiden und folgern können, «man glaubt mir nicht mehr, weil ich log; also erleide ich Schaden, wenn ich lüge; um meines eigenen Vorteils willen werde ich von nun an die Wahrheit sagen.» Also, in der Brutalität und dem Unverstand der Strafe liegt eine Ursache der jugendlichen Roheit, welche wir mit einigem guten Willen zu bekämpfen vermögen. Eine andere ist das Beispiel: Das Kind wird selten roh, welches in einer Umgebung aufwächst, welche die stumme Kreatur durch Schonung achtet. Daher leitet man das Kind zur Roheit an, wenn man in seiner Gegenwart in einem Augenblicke schlechter Laune dem Hund einen Fußtritt gibt oder eine Pflanze kurz und klein schlägt. Der Nachahmungstrieb des Kindes, das solches geschaut, wird nicht verfehlen, die Handlung zu wiederholen und schließlich Vergnügen an der Handlung selbst zu empfinden. Darin liegt dann der sogenannte «angeborene» Hang zur Zerstörung und zur Grausamkeit im Kindesalter. Es ist die erste Folge zuerst des Jähzornes, den man selber ins Kind pflanzte, und dann kommt die zweite, die in behagliche und beschauliche Zerstörungsmanie ausartet.
Eine fernere Quelle der Roheit ist die Lektüre der Kinder, die sich auf bluttriefenden, von Grausamkeiten wimmelnden Feldern tummelt, welche die Phantasie des jugendlichen Lesers mitunter bis zu einem dem Wahnsinne verwandten Stadium erregt; ich meine die ungezählten Indianer- und Räubergeschichten, und dann die sogenannten Jugendschriften des Jugendverderbers Karl May, welche merkwürdigerweise gerade in jenen Kreisen am meisten Befürworter finden, die am lautesten gegen die zunehmende Verrohung der Jugend zetern. Man versetzt doch gewiß nicht ungestraft den jugendlichen Leser in eine mordlustige Heldenstimmung, welche sein Herz anschwellen, welche sein ganzes Trachten in dem Wunsche gipfeln läßt, auch blutige Heldentaten zu verrichten, auch über die Leichen erlegter Feinde lächelnden Antlitzes hinwegzuschreiten. Wenn sich die Feinde nicht ohne weiteres finden, dann schafft sich des Kindes schöpferischer Geist eben welche in Form von Tieren, von Pflanzen, von Spielkameraden, die an körperlicher Kraft nicht an den Helden heranreichen; mitunter auch, wenn nichts anderes zu haben ist, müssen tote Objekte herhalten. Denn die Phantasie des Kindes ist für nichts so empfänglich wie für das Ungewöhnliche, das Außerordentliche, das Fabelhafte. Aus diesem Grunde betrachte ich auch den Geschichtsunterricht, welcher in der Darstellung jener endlosen Reihe von Vergewaltigungen der Schwachen durch die Starken gipfelt, dessen Bilder aus Leichen und Blut, aus Kämpfen und Schlachten bestehen, als eine Ursache der Verrohung der Jugend. Solange wir unserer Jugend die größten Mörder als die größten Helden, die abgefeimtesten Schurken als die größten Staatsmänner, die verschlagensten und gewissenlosesten Gauner als die dem Vaterlande unentbehrlichsten Diplomaten, als dessen größte Wohltäter darstellen, solange dürfen wir ihr den Vorwurf der Verrohung nicht entgegenschleudern, ohne uns selbst reumütig an die Brust zu schlagen. Der Geschichtsunterricht, welcher den Massenmord, den Krieg als Selbstzweck hinstellt in der Phantasie des Kindes, ist moralisch nicht nur unhaltbar, sondern übt eine geradezu verheerende Wirkung auf die Seele des Kindes aus. Weil der Geschichtsunterricht vorläufig noch nichts anderes ist als eine Verherrlichung des potenzierten Mordes, als eine Apotheose der brutalen Gewalt, möchten wir ihn am liebsten aus dem Unterrichtsplan endgültig gestrichen sehen. Die krassen Fälle von Verrohung der Jugend würden bald weniger werden.
Luxus
Von der Kanzel herab, aus dem Ratsaale heraus, im geselligen Kreise wird gegen den Luxus gedonnert und gezetert. Es scheint, daß ihm das Geschimpfe und die Zwangsmaßregeln recht gut anschlagen, denn er ist immer da, macht sich breit, grinst zu allen Fenstern hinaus und zu allen Türen hinein. Er promeniert auf der Dorfstraße, er bummelt durch die Stadt, verkehrt auf dem Tanzboden und in den Privatwohnungen; jedermann kennt ihn, jeder hat ihn gesehen und niemand ist, der zu sagen vermöchte, würde er darum gefragt, wer er eigentlich ist, wie er aussieht.
Wahr ist’s, er ist ein wandelbarer Geselle, ihm stehen hundert Kleider zur Verfügung und selten erscheint er an zwei Orten im gleichen Gewande. Aber heimisch fühlt er sich überall und läßt sich nirgends vertreiben. Wer ihm auf seinen Gängen folgt, wird erstaunt sein, zu sehen, bis wohin er sich verirrt. Es ist ihm kein Palast zu ehrwürdig, keine Dachkammer zu hoch, keine Kellerwohnung zu muffig, um nicht dort seine Aufwartung zu machen. Er schleicht hinein, sucht sich ein Plätzchen aus, dort macht er sich breit und schmunzelt, besonders wenn er wieder etwas angestellt hat.
Was ist denn Luxus? Ist es erhöhter Lebensgenuß derjenigen, die sich seine Gesellschaft leisten können? Wäre er das, dann hätte niemand ein Recht, ihm auf die Hühneraugen zu treten; dann dürften weder der Herr Pfarrer noch der Ratsherr, noch die ungezählten männlichen und weiblichen Klatschbasen und Ketzerrichter ihm den Prozeß machen, denn dann erfüllte er einen edlen und schönen Zweck, dann würde durch ihn das Leben reizvoller und lebenswerter.
Also, das ist er nicht? Was ist er dann?
Er ist der große, wesenlose, überall aufdringliche, unbequeme Gast, der dem Reichen die besten Bissen vom Teller nascht und mit dem Armen die letzte Brotrinde teilt, dem sich alle Türen öffnen, vor dem sich alle verneigen; ein hohler Schemen, der Sorge und Qual schafft, und den wir doch nicht entbehren können. Er ist alles das, was wir uns nicht nur ohne Notwendigkeit des Lebens aneignen, sondern ohne eigenen und eigentlichen Genuß; er ist das, was wir ohne Freude mitschleppen, um in den Augen dritter, die uns nichts angehen, reicher, gebildeter, vornehmer zu scheinen als wir in Wirklichkeit sind. Es liegt nun einmal in der Menschennatur, das Hohe nicht um des Hohen willen zu erstreben, sondern um herabzuschauen auf alle, die tiefer stehen. Und ist man zu faul oder zu dumm, um die hohe Warte zu erklimmen, na, dann tut’s eben ein Surrogat, wie die Zichorie in Ermangelung von Mokka, und dieses Surrogat ist der Luxus.
Darum machen wir alle, ob reich oder arm, groß oder klein, die Farce, welche uns im tiefsten Innern langweilt und ärgert, mit. Wir leisten uns die Gesellschaft des Luxus und fügen uns der launigen Herrscherin Mode.
Wir sind alle darin einig, daß die Mode töricht ist, daß sie keine sinnliche Berechtigung hat, daß sie Geld kostet, schönes rundes Geld, welches uns bessere Genüsse verschaffen könnte. Wir wissen, daß sie eine grausame Tyrannin ist, die uns plagt und knechtet, und doch haben wir nicht den Mut, uns ihrer Herrschaft zu entziehen.
«Das war gut gesagt!» höre ich den einen oder anderen Leser ausrufen. «Da können die Frauen eine Nase voll nehmen!»
Entschuldige, lieber Freund! Nimm dir nur erst selbst eine Nase voll!
«Ich bitte sehr! Ich huldige weder dem Luxus noch der Mode. Einmal erlauben mir das meine bescheidenen Mittel nicht und dann finde ich es abgeschmackt.»
Und wenn ich dir nun beweise, daß du, wie du vor mir stehst, wie wir alle ein Sklave der Mode und ein Schildträger des Luxus bist?
Das würde mie schwer fallen, meinst du. Aber sag mal, du trägst ja einen Stehkragen. Warum? Weil diese Fasson deinem Geschmacke besser entspricht als irgend eine andere? Wenn das ist, dann ist dein Kragen kein Modegegenstand, denn er gewährt dir eine ästhetische Befriedigung. Aber nun sage mir, warum du überhaupt Kragen trägst? Mußt du denn das? Wenn du zu Hause bist und dich niemand sieht als deine nächsten Angehörigen, dann schmeißest du ihn weg und fühlst dich wohler. Also trägst du den Kragen überhaupt nicht deinetwegen, sondern deinen lieben Mitbürgern zulieb. Siehst du, das ist Luxus. Ein Luxus, den Zeit und Mode zu einem Bedürfnis kristallisierten.
Deine Krawatte! Was hat denn die da zu schaffen? Früher, als sie dazu diente, das Hemd zusammenzuhalten, da hatte es einen Sinn, sie zu tragen. Jetzt ist sie stilwidrig, denn nicht nur hat sie keinen Zweck, sondern, statt dem Hemd einen Halt zu geben, wird sie von ihm getragen. Ein reines Prunkstück, an dem dich höchstens die Farbe und die Fasson ergötzen, weil sie deinem Auge wohltun. Aber um sie zu genießen, müßtest du sie in der Hand tragen oder vor dem Spiegel stehn. Apropos! Wozu trägst du Manschetten? Und zu was dienen dir die blinden Knöpfe an deinen beiden Rockärmeln? Die waren existenzberechtigt in der Zeit, wo man die Ärmel noch zuknöpfte.
Wenn ich dich in deiner Wohnung besuche, so sehe ich im Empfangszimmer ein schönes Büchergestell; dort sind die Klassiker in Reih und Glied aufgestapelt. Was gilt die Wette, du kennst nicht einen von ihnen, du hast noch nie die Nase in eines der schönen Bücher gesteckt, und doch sind sie da. Zu was? Willst du etwa glauben machen, ihr Inhalt sei dir vertraut? Willst du dir den Schein eines Wissens geben, das dir abgeht? Dummer Kerl! Du betrügst damit niemand als dich selbst. Diejenigen, welche dir ähnlich sehen, die haben die Klassiker selbst in ihrem schönen Zimmer und wissen, zu was die prächtigen Bände dienen, und die andern, welche die Klassiker wirklich lesen, wissen, daß man das nicht im Salon tut, wissen, wie zerlesene Bücher aussehen und, was das schlimmste ist, sehen deinem ganzen Gebaren an, ob du ein Kind jenes Geistes bist, der die Klassiker bewältigt.
Und deine Bilder! Ich frage dich auf Ehre und Gewissen: Was stellt das Bild in dem schweren Goldrahmen vor über dem Kanapee in deiner besten Stube? Siehst du, du mußt dich besinnen! Gib dir keine Mühe, es fällt dir nicht ein. Ich will es dir sagen. Es ist eine Abendlandschaft, die schlechte Kopie eines schlechten Bildes, das weiß der Himmel durch welchen Zufall noch immer in den geweihten Räumen unseres Kunstmuseums hängt. Warum hast du es, wenn du es nicht einmal ansiehst, also keinen Genuß davon hast?
Der Rahmen ist das Beste dran, darum hast du den Schwarten aufgehängt. Wer zu dir kommt, muß den Eindruck mitnehmen, du könntest es dir leisten, Goldrahmen an die Wände zu hängen. Du hast den Rahmen nicht für dich, sondern für Krethi und Plethi gekauft, und hast selbst ebensowenig davon wie Krethi und Plethi.
Ich meine nicht, daß alles, was nicht durchaus zur Erhaltung des Lebens gehört, Luxus ist. Und doch glaube ich, war Diogenes ein recht glücklicher Mann. Er genoß das Leben intensiver als wir alle, er hatte mehr davon als wir alle zusammen, weil er sich, ohne daß es ihm nahegegangen wäre, auf das Notwendigste beschränkte. Erinnerst du dich, wie er behaglich in der Sonne lag, blinzelte und schmunzelte, sich der wohltuenden Wärme freute und faulenzte, als ihn Alexander besuchte? Wie er unwirsch wurde, als dieser seine Siesta störte?
Er liebte die Bequemlichkeit und liebte das Leben. Er war aber so klug, sich von allem zu trennen, das ihn am wirklichen kontemplativen Lebensgenuß hinderte, während wir alles zusammenraffen, um uns um die Lust zu bringen. So paradox es klingt, wahr ist es doch: Der denkbar genußsüchtigste Mensch wird in den Augen seiner Mitmenschen stets der genügsamste sein. Je raffinierter seine Sinne sind, je weniger bedarf er, dessen alle Welt bedarf, und diese selbst ist ihm schnuppe. Er kann inmitten der wogenden Menschlein in seiner sonnenbeschienenen Tonne leben – und lachen.
Nein! Nicht der Überfluß an sich ist Luxus. Wenn der Überfluß den Lebensgenuß erhöht, ist er wohltätig. Und Narren wären wir, wollten wir uns seiner nicht zu unserer Behaglichkeit bedienen.
Der Luxus besteht in dem, was wir mitunter dem Nötigsten abzwacken, was wir nicht für uns, sondern für die öffentliche Meinung kaufen, in dem, das uns nicht freut und den andern gleichgültig ist.
Willst du mir noch bestreiten, daß dieser Luxus nicht auch beim Bettler zu Hause ist und vor allem bei denen, die am lautesten gegen ihn zetern und schreien?!
Höflichkeit
Höflichkeit (paranoia inclinans) ist ein stillschweigendes, gesellschaftliches Übereinkommen, sich gegenseitig anzulügen. Sie ist ein Instrument, welches in allen Tonlagen gestimmt werden kann, und wer darin die größte Virtuosität erlangt, wird Gentleman genannt. Die Kunst des Spiels besteht darin, in jeder Lebenslage heucheln zu können.
Es gibt verschiedene Tonarten der Höflichkeit, die streng auseinander zu halten sind und die, wenn sie verwechselt werden, eine Dissonanz zur Folge haben, welche in der technischen Sprache «Faux-pas» genannt wird. Es gibt eine Höflichkeit, die in Moll und eine Höflichkeit, die in Dur gespielt wird. Diese letztere ist hauptsächlich auf dem Lande, die andere vorwiegend in den Städten heimisch. Ihr Zweck ist gesellschaftliche Harmonie. Um ein höflicher Mensch zu werden, bedarf man einer künstlichen, fachtechnischen Ausbildung. Der vollkommen höfliche Mensch übt infolgedessen ein Kunstgewerbe aus, nicht eine Kunst, weil diese letztere sich selbst genügt, während das Kunstgewerbe industriell ausgebeutet wird. Die Höflichkeit ist sich nicht Selbstzweck und ist also ein Gewerbe, dessen Produkte, Liebenswürdigkeit, Dankbarkeit, Teilnahme, Mitleid, im Handel gegen klingende Moneten oder Konnexionen umgewertet werden. Da die Ausübung der Höflichkeit keine Kunst ist, sondern ein Gewerbe, und zwar ein künstliches Gewerbe, geht bei dem, der es betreibt, die Natürlichkeit unter. Ein höflicher Mensch ist deshalb nicht mehr ein Organismus, sondern eine mehr oder weniger fein ausgearbeitete «Schönphrasenmaschine».
Die Firma, welche solche Höflichkeitsautomaten erstellt, eine weitverzweigte Aktiengesellschaft, ist unter dem Namen «Erziehung» bekannt. Das zur Herstellung von Automaten notwendige Rohmaterial wird in Form von Kindern der sogenannten besseren Familien gewonnen. Die «Höflichkeitsautomatenfabrikation» ist daher vorwiegend eine Hausindustrie. In größeren Zentren gibt es eigentliche Laboratorien, welchen ein besonderer Fachtechniker, in der Regel Tanz- und Anstandslehrer genannt, vorsteht. Dieser Fachtechniker gibt den Automaten die letzte Politur und fügt noch einige überraschende Tricks an die bereits im Rohbau fertige Maschine, in Form von «feinen Manieren». Mit der Bearbeitung des eigentlichen Rohmaterials befaßt sich der Techniker höchstens zu seinem Privatgebrauch. Die Höflichkeitsindustrie ist eine der verbreitetsten der Welt, indem sie sich fast über die ganze Erde erstreckt.
Es gibt Gegenden, in denen die Höflichkeit sich eines besonderen Rufes der Verfeinerung erfreut. Infolgedessen wird das Rohmaterial sehr oft in diese Gegenden versandt, um dort ausgearbeitet zu werden. Die Schweiz hat eine solche Gegend, Welschland genannt. Da die Höflichkeit sich eines sehr hohen Kurses erfreut, so ist es selbstverständlich, daß auf die Herstellungskosten von Höflichkeitsautomaten entsprechende Prozente geschlagen werden. Wer besonders gut situiert ist und gerne mit sehr feinen Automaten glänzen will, nimmt Fachtechniker ins Haus und läßt sein Rohmaterial unter eigenem Dache verarbeiten. Diese Fachtechniker sind in der Regel weiblichen Geschlechtes und unterscheiden sich von den gewöhnlichen Sterblichen durch hervorragende Kurzsichtigkeit, welche eine Brille unentbehrlich macht und einen herben Zug um die Mundwinkel. Sie werden Gouvernanten genannt und erfreuen sich in England einer besonderen Beliebtheit. Man will bemerkt haben, daß die englischen Höflichkeitsautomaten sich durch ganz besondere Präzision auszeichnen und auf die Minute stimmen, während das französische Fabrikat, welches Jahrhunderte lang die Kulturwelt beherrschte und sich durch äußerste Anmut in den Bewegungen und Redewendungen, durch so genannten Geist und viele Spielwalzen auszeichnete, in den letzten Jahren eher im Marktwerte gesunken ist. Ob diese Erscheinung der Tatsache zuzuschreiben ist, daß Frankreich zuerst den Versuch machte, die Automaten «en gros» zu erstellen und zu diesem Zwecke eigentliche Fabrikanlagen gründete, die sogenannten Pensionate und daß durch diese Fabrikation auf das einzelne Stück nicht mehr die ursprüngliche Sorgfalt verwendet wurde, läßt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen, obwohl die Versuche, welche zum Beispiel in der Schweiz gemacht wurden, diese Annahme zu bestätigen scheinen.
Immerhin mag sehr viel an der Qualität des Rohmaterials gelegen sein, welches nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Stand zu Stand wesentlich verschieden ist. Das beste Material liefern die Treibhäuser der guten Gesellschaft, in denen ein weiches und biegsames Holz sorgfältig gezüchtet und getrieben wird. Ein von Natur aus knorriges oder sprödes Holz ist nur sehr schwer oder gar nicht zu Höflichkeitsautomaten verwendbar. Immerhin hat auch hier die moderne Technik bahnbrechend gewirkt, indem es gelingt, durch Behandlung mit gewissen ätzenden Säuren auch ziemlich ungeeignetes Material windelweich zu machen. Es wird mit Vorliebe «acidum prohibitum» oder «Gesellschaftlicher Verschiß» angewandt und Autoritäten behaupten, daß es nur in Ausnahmefällen seine Wirkung vollständig versagt.
Da die Bearbeitung des Materiales eine sehr langandauernde und zeitraubende ist, so liegt ein Vorteil darin, dasselbe, bevor es vollständig ausgewachsen, also am liebsten schon in Form von zarten Sprossen, in Arbeit zu nehmen. Diese ist eine äußerst komplizierte und erfordert nicht nur die stete Aufmerksamkeit der damit sich beschäftigenden Fachleute, sondern auch der fortwährenden Überwachung der Erzeuger des Materiales selbst. Denn es handelt sich darum, einerseits das zu schnelle Wachstum des Materiales hintan zu halten, und zwar in der Weise, daß seine Lebenskraft gerade zur Verarbeitung ausreicht. Nimmt das Wachstum zu sehr überhand, so müssen die wilden Sprossen immer zurückgeschnitten werden. Geschieht dies durch unkundige Hand, so kann es vorkommen, daß das Material ganz verdorben wird. Der Fabrikationsprozeß nimmt in solchen Fällen über kurz oder lang einen letalen Ausgang, und das unbrauchbar gewordene Material wird dann durch Kremation oder Inhumation in das Jenseits abgeschoben. Dies sind aber nur Ausnahmefälle. Viel häufiger kommt es vor, daß die Natur die Kunst überwuchert, und dann ist das Material und die darauf verwendete Arbeit ebenfalls verloren. In solchen Fällen funktioniert dann das Material nicht mehr, sondern es beginnt unabhängig zu leben. Dies ist sehr gefährlich, weil es dann für den Staatsdienst keine Verwendung mehr hat.
Die Bearbeitung des Rohstoffes, Kind genannt, beginnt, wenn man zu einem ersprießlichen Resultate gelangen soll, schon in den ersten sechs Monaten seines Daseins. Da in der Höflichkeitskunst das Lächeln eine Hauptrolle spielt, wird dieses durch einen sanften Kitzel in der Magengegend hervorgerufen. Später, wenn das Kind einmal soweit ist, daß es die Hand reichen kann, wird man die Eigentümlichkeit wahrnehmen, daß es für den gesellschaftlichen Verkehr beide Händchen für gleichwertig hält und nach Belieben das linke oder das rechte dem Besuche entgegenstreckt. Da nun allein die Rechte Anspruch auf Salonfähigkeit erheben darf, wird die Linke durch jeweilige Kläpse zurück- und die Rechte durch gelegentliche Bonbons hervorgedrängt.
Später, wenn das Kind sich erkältet und dabei Hustenreiz sich einstellt, muß es dazu gebracht werden, die Hand vor den Mund zu halten. Dies geschieht, indem man es einige Male vormacht und zur Nachahmung auffordert. In der ersten Zeit wird das Kind diese Regel vergessen. Man drückt dann, um diesem Übelstand vorzubeugen, den Mittel- und Goldfinger in die innere Handfläche, streckt die beiden vorstehenden Finger dem Kinde entgegen und sagt dazu wiederholt: «Pfui! Wie garstig!» Hilft das nicht, so wendet man eine andere Prozedur an, welche in der Erziehungstechnik sattsam unter der Bezeichnung «Prügel» bekannt ist. Es würde zuweit führen, auf alle Einzelheiten der Automatenfabrikation einzugehen, und es sei deshalb nur einiger Spezialitäten Erwähnung getan.
So ist zum Beispiel eine der Hauptbedingungen der Höflichkeit, daß das Rückgrat geschmeidig wird. Dies ist nun mitunter sehr schwer zu erzielen. Die Methode, mittelst welcher man dies erreicht, besteht im Wesentlichen darin, daß man die dem Rückgrat unten anhaftenden Weichteile wiederholt und mit Nachdruck mit einem Haselstock bearbeitet, bis sie eine rötliche Färbung annehmen. Allein, dies sind alles nur Präliminarien. Die ersten fünfzehn Jahre der Behandlung gehen dahin, indem man dem Rohstoff beibringt, nicht mit dem Finger auf etwas zu zeigen (daher die Bezeichnung: Zeigfinger); die Kopfbedeckung jederzeit dazu zu verwenden, das Haupt zu entblößen, nicht Wasser zu trinken, wenn es etwas anderes im Munde hat; geräuschlos die Nase zu putzen; leise zu lachen; «pardon» zu sagen, wenn es auf die Hühneraugen getreten wird; die Serviette nicht umzubinden, sondern auf das Knie zu legen; die Nägel im Verborgenen zu schneiden und zu reinigen; Fische ohne Messer zu essen; nicht zu sprechen, ohne gefragt zu werden; und so weiter ad infinitum. Alle diese Dinge gehören zum sogenannten Anstand und sind nur die Elementargründe zu der eigentlichen Höflichkeit, welche darin besteht, einen unangenehmen Besuch mit freundlichem Lächeln und herzlichen Worten zu empfangen; für Leute zu trauern und sein Beileid auszusprechen, die man gar nicht gekannt hat oder zum Teufel wünschte; sich einer andern Sprache als der allgemein üblichen zu bedienen; mit einem Worte, keinen Augenblick außer acht zu lassen, daß man nicht sein darf wie man ist und dementsprechend handeln. Mit einem Worte: die Höflichkeit (paranoia inclinans) oder der «Bückwahnsinn» ist eine der herrlichsten Errungenschaften der Kultur und verdient, ihrer Erscheinungsformen halber mit der Drehkrankheit und dem Veitstanz in einer Gruppe vereint zu werden.
DER GUTE RUF!
Eine empfindsame Leserin hat sich wieder einmal geärgert! Das ist ihr gutes Recht, denn sie hat ihr Abonnement bezahlt und mit dem geistigen Eigentum eines Dritten kann man tun, was man will, wenn man es bezahlt, gekauft hat. Man darf sich also auch darüber ärgern. Wenn man sich über gelieferte Ware, die man bezahlt hat (zum voraus bezahlt hat sogar!) ärgert, was ist natürlicher, als daß man seinem Lieferanten, im speziellen Falle dem würdigen Redaktor, einen geharnischten Brief schreibt und ihm recht unzweideutig seine Meinung kund und zu wissen tut?
Meine empfindsame Leserin hat also von ihrem gesetzlich zugestandenen Rechte ausgiebigen Gebrauch gemacht, als sie mir letzthin den Vorwurf machte, ich nehme es mit der Menschheit heiligsten Gütern sehr wenig genau, ich reiße mit höhnischer Lust ihre erhabensten Ideale herunter. Mit solchen Mitteln, schrieb sie, werde ich bei wirklich achtbaren Leuten (wie sie, die empfindsame Leserin) nicht reüssieren, und mein Blatt sei dem moralischen und materiellen Untergang geweiht, wenn ich nicht Buße tue und mich bekehre.
Die brave Dame hat nämlich an meinem Artikel über Höflichkeit Anstoß genommen, weil Leute von ihrem Kaliber eben alles, auch Anstoß nehmen, wo sie nur können. Ich hätte auf ihre bittern Vorwürfe, welche mit Ratschlägen wie dem, Hiltys Buch über Höflichkeit zu lesen (von dem ich nicht weiß, ob es eine für uns Schweizer angepaßte Neuauflage von Knigges Umgang mit Menschen ist), nicht reagiert, wenn sie mir nicht am Schlusse ihrer Epistel sagte, ich würde, wenn ich zufahre, so heilige Dinge wie die Höflichkeit anzutasten, nicht nur meinen, sondern auch den guten Ruf meines Blattes kompromittieren.
Vor allen Dingen muß ich der Dame nun für die Belehrung danken, daß ich und mein Blatt einen guten Ruf genießen. Wäre dies nicht, so könnte sie mir nicht mit dessen Verlust drohen. Das wußte ich bis heute nicht, und nun, liebenswürdige, empfindsame Leserin, die du Anstoß an meiner «Höflichkeit» genommen, und du, mein liebwertes Publikum, entsetze dich! Es ist mir noch selten etwas so bombenwurst gewesen wie mein und meines Blattes guter Ruf. Ja, ich glaube sogar, wenn ich aus zuverlässigerer Quelle als aus dem Briefe meiner aufgebrachten Leserin wüßte, daß ich mich wirklich eines so guten Rufes erfreue, welchen zu verlieren sich lohnen würde, ich in meiner Selbstachtung sänke. Denn der gute Ruf, auf den mich die Dame anweist, ist in meinen Augen nichts mehr als der feingebürstete, glänzende Zylinderhut, den man auf jeden Hohlkopf setzen, der fein geschnittene Frack, den man jeder Vogelscheuche umhängen kann. Der gute Ruf ist eine Banknote, die an sich keinen, durch die Summe, die sie darstellt, einen großen Wert hat. Der gute Ruf ist der Stempel unserer Mittelmäßigkeit, und ich halte es mit Böcklin, der eines Tages sagte, der Mensch sei am glücklichsten, der gesellschaftlich am wenigsten zu verlieren habe.
Unser Ruf hat, Gott sei’s gesungen und getrommelt, mit unserm Wesen, mit unserm innern Werte, folglich mit unserer Selbstachtung (und auf die kommt es an, verehrte, empfindsame Leserin) nicht das geringste zu schaffen, denn der gute Ruf ist nur gesellschaftliche Scheidemünze, deren Manko uns dem gesellschaftlichen Bankrott, nicht aber dem Hungertode ausliefert.
Es besteht ein kleiner Unterschied zwischen Pleite gehen und Pleite machen. So behauptete wenigstens ein galizischer Jude, und der hatte recht, denn das erstere ist ein ebenso schlechtes Geschäft als das andere ein vorzügliches ist. Ich für meinen Teil habe eine gewisse Vorliebe für gute, auch sozial gute Geschäfte, und daher läßt es mich vollständig kalt, ob mein Rut gut oder schlecht sei, wenn ich dabei nur auf meine Rechnung komme. Das klingt viel gewissenloser als es in Wirklichkeit ist, denn es nötigt mich, den konventionellen Wert an den reellen einzutauschen, den guten Ruf an die Selbstachtung hinzugeben.
Ich lege meinen persönlichen Reichtum, den moralischen, viel lieber in Gold als in schwankenden Papieren an, denn Gold hat wenigstens vor dem Papier den Vorzug eines größeren realen Wertes. Die Papiere dagegen sind den Schwankungen der Börse, des täglichen Marktes unterworfen; man weiß nie, wenn man sich als Kapitalist zu Bette legt, ob man nicht als Bettler erwachen wird. Nur das Gold ist stabil. Und wie die Papiere, von denen ich spreche, und ich denke dabei durchaus nicht etwa ausschließlich an Türkenlose, ist auch der sogenannte gute Ruf den Schwankungen der Börse im wörtlichen und im bildlichen Sinne unterworfen. Je schwerer die Börse, desto besser der «gute Ruf».
Sobald ich sie bezahlen kann, sind mir die größten Schandtaten und Gaunereien erlaubt und mein guter Ruf leidet nicht darunter, sondern er wird durch die ausgegebenen Silberlinge eher gefestigt als erschüttert, und daher ist der gute Ruf ebenso käuflich wie die Börsenpapiere. Auch die sind nur so lange gut, als sie eine marktwertige, reelle Grundlage haben, sonst sind sie Wische, deren Preis sich nach Angebot und Nachfrage richtet. Der gute Ruf ist also gelegentlich nicht nur käuflich, sondern auch sehr billig zu haben. Man braucht ihm nur einen gewissen reellen oder erschwindelten Wert zu unterlegen. Im zweiten Falle ist der gute Ruf umso gefestigter, als die Gaunerei, ihn zu erlangen und zu behaupten, groß angelegt ist. Im ersten Falle wird man im Besitze des Goldes auf das dasselbe im Kurs vertretende Papier mit Vergnügen verzichten und dieses Vergnügen ist kein kleines, da es die Grundlage unseres Glückes bedingt und bedeutet.
«Wenn man die Freude sieht, die gewisse Leute über die Verunglimpfung unseres Rufes äußern, so könnte man glauben, ihre Tugenden mästeten sich mit unsern Fehlern.» Der also sprach, war ein Lebenskünstler, welcher den guten Ruf auf seinen Wert oder Unwert wohl erkannt haben muß, und ich bin vollständig überzeugt, daß er gesellschaftlich keinen guten Ruf hatte, daher auch glücklich war. Dem ging gewiß auch der Spiegel, welcher ihm ab und zu seine Seele zeigte, vor dem höchsten Gute der Gesellschaftsmenschen, dem guten Rufe, den ich verlieren werde, wenn ich nicht meiner empfindsamen Leserin Folge leiste und das Buch Hiltys über Höflichkeit lese. Ich habe es übrigens noch nicht gelesen. Wäre es mir von jemandem anders als von der verärgerten Leserin empfohlen worden, vielleicht daß ich mich dazu hätte entschließen können. So aber liegt mir zuviel daran, meinen guten Ruf zu verlieren, denn ich will Gold und keine Türkenlose!
Christentum und Vaterlandsliebe
Seitdem es Antimilitaristen, vaterlandslose Gesellen gibt, und besonders seitdem der große Redekaiser, Wilhelm der Zerschmetterer, das geflügelte Wort prägte, daß nur gute Christen gute Soldaten sein können, hat man hier und da die Verkuppelung der beiden Begriffe des Christentums und der Vaterlandsliebe gefunden. Man hat sich alle Mühe gegeben nachzuweisen, daß wenn diese beiden Begriffe auch nicht ganz identisch seien, sie doch einander außerordentlich nahe stehen, daß der Begriff des einen gewissermaßen die Vorbedingung des Begriffes des andern sei. Zu untersuchen, ob dies wirklich zutrifft, soll die Aufgabe der folgenden Zeilen sein, freilich nur so kurz und skizzenhaft, als es die Form eines Zeitungsartikels gestattet. Der Klarheit halber wird es gut sein, wenn wir vor allen Dingen genau umschreiben, was unter Christentum einerseits und Vaterlandsliebe andererseits zu verstehen ist.
Unter Christentum verstehe ich die von Jesus Christus von Nazareth gegründete Religion, deren Quintessenz in den Worten gipfelt: «Du sollst Gott über alles lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.» Was der Stifter dieser Religion unter dem Nächsten versteht, das hat er in seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter herrlich dargetan. Der Nächste ist dem Christen jeder Mensch, besonders jeder hilfsbedürftige Mensch. Die Religion Christi ist also eine durchaus kosmopolitische, die an keine Landesgrenze gebunden, weder durch Sprachen noch Rassenfragen eingeengt, sich über die ganze Welt erstreckt, deren Endziel darin gipfelt, aus der ganzen Menschheit ein einziges Ganzes von Brüdern schaffen, im Gegensatz zum Judentum, aus welchem sie hervorging und welches eine Nationalreligion war, indem es lehrte, daß ein Volk das auserwählte, das von Gott bevorzugte sei.
Unter Vaterland verstehe ich die Gesamtheit eines politisch genau bestimmten Gebietes, innerhalb dessen Grenzen ein Volk nach einheitlichen Gesetzen lebt. Die Vaterlandsliebe erstreckt sich daher nicht über die Landesgrenzen hinaus, sondern ist an das bestimmte politisch begrenzte Gebiet gebunden. Sie ist die Liebe zur Nationalität, im Gegensatze zu der Liebe zur Menschheit im allgemeinen. Das einzelne Volk ist ein Teil der Menschheit, welches in der Mitte derselben zur Erreichung oder Wahrung von Sonderinteressen sich zu einem Staate zusammengefunden hat, die Liebe zum Vaterlande ist also die Liebe zu den Sonderinteressen des Volkes, dem wir angehören.
Schon hier sei uns die Gegenüberstellung der christlichen und der nationalen Idee erlaubt:
Während das Ideal der christlichen Religion auf rein ethischem Gebiete zu suchen ist, finden wir das Ideal des Nationalismus, der Vaterlandsliebe auf dem Gebiete der reinen Nützlichkeit, einer gewissen, genau bestimmten Anzahl von Einzelindividuen, deren Gesamtheit ein Volk bildet.
Man könnte also sagen, und das wäre das einzig richtige: Christentum und Vaterlandsliebe können gar nicht miteinander in ideelle Verbindung gebracht werden, weil das erstere mit ethischen, die zweite mit materiellen Werten rechnet. Da es aber doch getan wird, so müssen wir denen, die es getan haben folgen, und dann kann dies nicht geschehen, ohne daß das Wesen des Christentums oder das der Vaterlandsliebe seinem eigentlichen Zwecke entfremdet wird. Entweder muß man, um beide in Zusammenhang zu bringen, dem Christentum materielle oder der Vaterlandsliebe ideelle Werte und Zwecke unterlegen. Tun wir dies jedoch, dann ist entweder das Christentum nicht mehr Religion, oder das Vaterland ist nicht mehr der Ausdruck einer reinen Rechtsgenossenschaft, eines Staates. Ob wir das eine oder andere tun, ist gleichgültig, wichtig ist nur, dabei festzuhalten, daß wir in beiden Fällen das Opfer eines Irrtums oder einer Lüge werden.
Denn das steht mir unzweifelhaft fest, daß ungeachtet der verschiedenen erstrebten Werte des Christentums und des Nationalismus, welcher in der Vaterlandsliebe Ausdruck findet, die beiden im Prinzip gegensätzlich sind. Während das Christentum seine Segnungen der ganzen Welt, ohne Unterschied der Rasse, Sprache, Farbe usw., zugänglich machen möchte, will die Vaterlandsliebe ihre Segnungen nur den Mitanteilhabern des eigenen Vaterlandes erschließen. Während das Christentum eminent international, kosmopolitisch einen Welt- und Menschheitsgedanken verkörpert, gibt die Vaterlandsliebe lediglich dem Gedanken an einen Teil der Menschheit, an ein Volk, an eine gewisse einheitliche Masse innerhalb des Ganzen Ausdruck.
Darum ist es frevelhaft und unsinnig, das Christentum als Religion in das Joch des Nationalismus und der Vaterlandsliebe spannen zu wollen, und auf die Frage, ob das Christentum Bürgertugenden lehre oder auch nur dulde, kann nur bejahend geantwortet werden, wenn diese Bürgertugenden auch gleichzeitig allgemein vom Nationalismus unabhängige menschliche Tugenden sind. Wie man aber dazu kommen kann, die Behauptung aufzustellen, das Christentum bedinge den Patriotismus im eng nationalistischen Sinne, ist mir unbegreiflich und zeugt von einer unglaublichen Verkennung entweder des Christentums oder der Vaterlandsliebe – oder aber von einem ungeheuren Betrug. Wie will man beispielsweise logisch nachweisen, daß das Christentum den Massenmord (eine vaterländische Tugend) gebiete? Wie will man die Gesetze irgend eines Landes mit der Ethik des Christentums in Einklang bringen, ohne es zu verhöhnen? Ich sehe dazu nur einen Weg, und das ist der der Beraubung des Christentums von dem, das sein eigentliches Wesen und seinen besonderen Wert ausmacht und die damit verbundene Knechtung des Christentums unter die Gesetze des Staates. Dann ist es aber nicht mehr das Christentum, sondern dann ist es die Kirche, mit der sich der Patriotismus abzufinden hat, und daß mit der Kirche zu handeln ist, das wissen wir längst, denn immer hat sich die Kirche als Dienerin des Staates, der sie erhält und bis jetzt ihre Existenz bedingte, außergewöhnlich anpassungsfähig und seinen Forderungen willfährig gezeigt. Ehrlicherweise sollte dann aber die Frage nicht mehr nach Christentum und Vaterlandsliebe, sondern nach Kirche und Vaterlandsliebe hinzielen, womit dann allerdings der eklatante Beweis, daß Kirche und Christentum nicht nur nichts miteinander gemein haben, sondern daß sie einander direkt widersprechen, wieder einmal mehr erbracht würde. Und diesen Beweis zu erbringen, halten die Leute am wenigsten für opportun, welche am lautesten das Christentum verteidigen, welche das Himmelreich am sichersten schon auf Erden in Pacht genommen haben. Sie wissen warum, und ich mag ihnen das Vergnügen gerne gönnen. Aber wenigstens mit ehrlichen Waffen kämpfen, das dürften sie. Wenigstens nicht zwei Sachen miteinander verquicken, die, wenn es ganz gut geht, nichts miteinander zu schaffen haben, da wo sie sich nicht geradezu gegensätzlich gegenüberstehen.
Denselben Mischmasch, den sich diese Leute zwischen Kirche und Christentum erlauben, indem sie sich ohne weiteres des Wortes Christentum bedienen, um damit die Kirche zu bezeichnen, wenden sie übrigens auch an auf den Patriotismus. Auch hier haben wir zwei ganz verschiedene Dinge zu unterscheiden, und auch diese beiden Dinge werden einander vorgeschoben, wenn es nur in den Kram paßt, wenn damit nur der nicht selbständig denkenden Menge Sand in die Augen gestreut werden kann. Man sagt Vaterlandsliebe, Patriotismus und vergißt, daß sich dieser nur auf das Wesen des Staates beziehen kann und beziehen darf, nicht aber auf das innere Wesen des Volkes oder der Völker, aus denen dieser Staat zusammengesetzt ist. Die Vaterlandsliebe, der Patriotismus bedeutet nichts anderes als die Apotheose des politischen status quo und hat mit der Heimatliebe, dem Schollenbewußtsein, rein nichts zu tun. Man kann seine Heimat glühend lieben und doch finden, es sei nicht alles rosig in dieser schönsten aller Welten, man kann von der Liebe zu seiner Heimat durchdrungen und, um gerade dies herauszusagen, doch ein überzeugter Antimilitarist und Anarchist in des Wortes verwegenster Bedeutung sein. Eines schließt das andere ebenso wenig aus, als eines das andere bedingt. Aber heutzutage ist Patriotismus Trumpf, und man macht in Patriotismus und Christentum, wie man sonst in Kaffee und abgestandenen alten Ladenhütern machte. Der Umstand, daß man staatserhaltend wirkt, beweist noch lange nicht, daß man darum seine Heimat und seine Volksgenossen liebt, sondern lediglich, daß man mit den derzeitigen politischen Zuständen zufrieden ist, sein Auskommen dabei findet und nichts daran geändert sehen möchte. Das ist alles! Und wenn man schon gar das Christentum heranziehen muß, um staatserhaltend mitwirkend zu helfen, dann steht’s schlimm entweder mit dem Christentum, welches dadurch entweiht wird, oder mit dem Staat, der aus dem letzten Löchlein pfeift, daß er sich sogar der Religion bedienen muß, um sich noch über Wasser zu halten. Oder will man uns etwa glauben machen, wir hätten den Zustand der idealen Theokratie, des christlichen Gottesreiches auf Erden, schon erreicht?
So lange man sich gegenseitig niederknallt, so lange es Leute gibt, denen die Liebe käuflich und verkäuflich ist, solange der eine hungrig zu Bett geht und der andere zum Arzt, weil er sich überessen hat, so lange höre ich die Botschaft wohl, allein, mir fehlt der rechte Glaube.
Volkswille
Nach jeder bedeutenden Abstimmung oder Wahl in unserm Lande kann man, je nach ihrem Resultate, in den Blättern der obsiegenden Partei die Phrase lesen, das Volk habe «seinen Willen in unzweideutiger Weise zum Ausdruck gebracht». Sie klingt außerordentlich stolz, diese Phrase, und vermag nicht nur den monarchischen Ausländern, die sich von republikanischen Einrichtungen gerne begeistern lassen, sondern auch vielen unserer Mitbürger recht zu imponieren. Bei solcher Lektüre, da schwillt das Herz des freien Schweizers, da fühlt er sich unendlich glücklich und erhaben über die armen, geknechteten Bürger der monarchischen Staaten, deren Gesetze alle von oben kommen, zu welchen sie nichts zu sagen haben.
Es ist darum vielleicht ein wenig verwegen zu behaupten, daß wir Schweizer trotz unseren demokratischen Allüren durchaus nicht das Volk der freien Selbstbestimmung sind, als das wir uns gerne spiegeln und bewundern lassen. Ob wir es nun Demagogie, Aristokratie, Plutokratie nennen, sicher ist, daß wir von einer ganz kleinen Minderheit regiert, daß unsere staatlichen Einrichtungen nicht vom Gesamtvolke, sondern von einer mitunter erstaunlich kleinen Zahl von Bürgern bestimmt werden, daß die große Masse, das eigentliche Volk, in Wirklichkeit bei uns noch gar nie zu Worte gekommen ist, daß es vorderhand wenigstens, ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß es jemals zu Worte kommen wird.
Wir sagen das nicht, um unsere politischen Einrichtungen zu schmähen, wir konstatieren einfach eine alte Tatsache, welche jedoch immer und immer wieder von der gerade obsiegenden Partei verkannt und von dem gutmütigen Volke, welches in der Parteipresse sein Orakel sieht, gutmütig ignoriert wird. Das Volk hat sich nie die Mühe gegeben, darüber nachzudenken, und in diesem Mangel an Nachdenken und Konstatieren liegt nicht nur das Geheimnis des Einflusses unserer politischen Parteigruppierung, sondern auch die Existenzbedingung der Parteien selbst. Ein neuer Beweis zu der von uns schon zu wiederholten Malen aufgestellten Behauptung, daß Parteigeist und Intellekt einander als Gegensätze gegenüberstehen, sich gegenseitig ausschließen. Ein neuer Beweis ferner für unsere andere Behauptung, daß ein Volk, welches sein wirkliches und nicht nur ein imaginäres Selbstbestimmungsrecht ausübt, keine politisch gegliederten, feststehenden Parteien haben kann, sondern daß sich bei jeder Einzelfrage die Einzelnen um Ideen gruppieren sollten und nicht um Programme politischer Korporationen oder ökonomischer Interessengruppen, welche sich notgedrungener Weise zu Parteien umwandeln.
Denn daß wir wirklich nicht selbst über unseres Landes und Volkes Geschicke bestimmen, wir, das Volk, wir, die Gesamtheit des Volkes, springt in die Augen, wenn wir bedenken, daß unser Land eine ungefähre Bevölkerung von dreieinhalb Millionen Einwohnern hat. Von diesen dreieinhalb Millionen Einwohnern sind politisch bestimmungsfähig ungefähr achthunderttausend stimmberechtigte Bürger, also rund etwas mehr als der fünfte Teil. Auch wenn alle diese Stimmberechtigten zur Urne gehen und über die Gesetzesvorlagen und Wahlen entscheiden würden, so bliebe dennoch die Tatsache bestehen, daß 2,7 Millionen Bürger sich von der Minderheit von achthunderttausend Stimmberechtigten regieren lassen müßten. Denn ich muß gestehen, daß ich unter dem Begriff «Volk» nicht nur die Stimmberechtigten, sondern auch die Frauen und Kinder und die vielen, denen das Stimmrecht aus irgend einem Grunde entzogen ist, verstehe.
In Wirklichkeit gehen aber die Stimmberechtigten lange nicht alle zur Urne, sondern, wenn einmal fünfhunderttausend Mann in unserm Lande von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen, so ist das schon eine ganz hübsche Beteiligung. Wenn nun eine Vorlage auch bei dieser starken Beteiligung angenommen oder verworfen wird, dann ist die annehmende Mehrheit – sagen wir einmal dreihunderttausend gegen eine zweihunderttausend Stimmen starke verwerfende Minderheit. Dreihunderttausend Bürger geben also einer Menge von dreieinhalb Millionen Seelen ein Gesetz, welches für alle gleichmäßig verbindlich ist, und die regierende Kaste ist nicht mehr rund ein Fünftel des Gesamtvolkes, sondern nicht einmal mehr ein voller Zehntel.
Aber auch die dreihunderttausend Mann starke annehmende Mehrheit bleibt nicht intakt, wenn wir sie vom Standpunkte der idealen Demokratie betrachten. Denn die dreihunderttausend Annehmenden sind nicht die Sprecher des Volkes, sondern sie sind die Sprecher einer politischen Partei, welche unter Umständen (ferne sei von mir zu behaupten, daß dies immer zutreffe) sich den Teufel um das Volk als Gesamtheit kümmern, sondern sich bei der Stimmabgabe lediglich durch den Interessenstandpunkt der Partei, der sie angehören, leiten lassen. Diese Parteiinteressen werden ihnen vor jeder politischen Aktion durch die Presse der Partei, durch Vorträge der Parteiführer, durch Belehrung durch Schrift und Wort klargelegt. Diejenigen, welche vorbereiten und klarlegen, sind die Führer der Partei, und ihrer sind, wenn es hochkommt, ein paar Hundert, die sich wiederum an einen engeren Ausschuß, der die Parole ausgibt, anschmiegen und dessen Befehle befolgen. Das praktische Resultat ist nun, daß nicht mehr ein Zehntel des Volkes der Gesamtheit Gesetze gibt, sondern daß dieser Zehntel in Wirklichkeit zu einem Tausendstel, Zehntausendstel, Hunderttausendstel, vielleicht noch tiefer hinabsinkt. Ja, wir haben es in unserm gepriesenen Lande der Selbstbestimmung schon gesehen, daß ein einziger mächtiger Wille, eine einzige kernige Persönlichkeit der Gesamtheit des ganzen Volkes seinen Willen durch das Mittel der Stimmzettel aufdrängte, daß somit der Wille eines einzelnen für alle Gesetz wurde. Wir geben nun gerne zu, daß dieses nicht immer vom Übel war, daß die Gesamtheit des Volkes darunter nicht notwendigerweise Schaden leiden muß, daß es mitunter sogar von großem Nutzen ist, wenn eine wirkliche, große, ganze Persönlichkeit der Masse ihren Willen aufzudrängen und sie zum Handeln zu bewegen versteht; allein, es kommt durchaus nicht darauf an zu untersuchen, welches die Folgen dieser Zustände sind, sondern nur darauf, nachzuweisen, daß in unserm, dem freisten Lande der Welt, der Volkswille, das Selbstbestimmungsrecht der Nation eben auch nur eine Chimäre ist. Es ist uns lediglich darum zu tun festzustellen, daß es eine Anmaßung ist, am Tage nach einer gewonnenen Urnenschlacht zu behaupten, «das Volk» habe seinen Willen kundgetan; denn was da Volk genannt wird, ist eine ungeheuer kleine Minorität, welche kraft der Verhältnisse zufällig ihren Willen durchzusetzen wußte.
An diese Feststellung ließen sich nun recht erbauliche Betrachtungen über Demokratie und die reelle Möglichkeit ihrer Durchführung knüpfen; wir könnten uns fragen, in welcher Weise vorgegangen werden müßte, um dem Volk, wenn nicht sein ganzes (denn das wird nie möglich sein), so doch ein erweitertes Selbstbestimmungsrecht zu geben – wir verzichten darauf, um vielleicht ein andermal davon zu reden.
Aber man wird uns begreifen, wenn wir für die sogenannten «Volksentscheide» sehr oft nichts mehr übrig haben als ein ironisches Lächeln.
Ein Anarchist
Kaum war am 26. März 1906 die sogenannte «Anarchistennovelle», amtlich betitelt: «Bundesgesetz betreffend Ergänzung des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853» vom Nationalrat angenommen, als uns auch schon unser geheimer Gerichtsberichterstatter folgenden Auszug aus dem Entwurfe der Anklagerede eines Staatsanwaltes mit der Bitte um Aufnahme zustellte. Wie unser Korrespondent dazu kam, das Aktenstück, welches gewiß nicht der Öffentlichkeit preisgegeben werden sollte, einzusehen, ist uns nicht bekannt, und wir können daher auch keine Garantie für die Echtheit des Auszuges übernehmen, sondern müssen es unserm geheimen Gerichtsberichterstatter überlassen, die volle Verantwortung seiner Publikation zu tragen. Zum besseren Verständnis des folgenden sei bemerkt:
Auf der Anklagebank der eidgenössischen Assisen sitzt ein Dorfschulmeister; der Vortrag ist für die eidgenössischen Geschworenen berechnet. Er lautet:
«Herr Obmann, meine Herren Geschworenen! Es ist Ihnen gewiß schon während den Verhandlungen zur Gewißheit geworden, daß der Fall, welcher uns heute beschäftigt, kein leichter ist. Handelt es sich doch um ein außergewöhnlich schweres Delikt, um ein Staatsverbrechen, begangen – und darin liegt ein außerordentlicher Erschwerungsgrund – von einem Beamten des Staates in der Ausübung seines Amtes. Wir werden uns also nicht allein mit der Frage zu befassen haben, ob sich der Angeschuldigte im Sinne der Anklage schuldig gemacht hat: a) der Aufreizung zur Begehung anarchistischer Verbrechen, denn das scheint mir zweifellos durch das Ergebnis der heutigen Verhandlung festzustehen, sondern wir werden auch die Frage beantworten müssen, ob dieses, meines Erachtens erwiesene Verbrechen b) nicht auch dasjenige des Amtsmißbrauches impliziert.
Herr Obmann, meine Herren Geschworenen! Erlauben Sie mir, rasch den Tatbestand, wie er sich aus den heutigen Verhandlungen herausgeschält hat, zu durchgehen. Der Angeschuldigte, Hans Lebrecht Kräjenbühl, amtete bis zum Tage des Beginnes seiner Untersuchungshaft als Lehrer der Volksschule in Gaggiswil. Als solcher hatte er die Pflicht, in der Schweizergeschichte zu unterrichten. Am Vormittage des 18. Novembers 1906 erzählte er den Schülern die Geschichte von Wilhelm Tell. Das geht aus seinem eigenen Geständnis hervor. Der Umstand, daß dieser sonderbare Jugendbildner seinen Kindern die Geschichte eines notorischen Meuchelmörders des langen und breiten erzählt, läßt an sich allein schon auf das Maß von Takt schließen, welches dem heutigen Angeschuldigten eigen ist. Aber nicht genug mit der Erzählung, der Feststellung des objektiven Tatbestandes, Kräjenbühl geht weiter; er verherrlicht die Bluttat jenes Buschkleppers, jenes notorischen Anarchisten, Wilhelm Tell genannt, indem er denselben seinen Schülern, laut seinem eigenen Geständnisse und den Zeugenaussagen, welche Sie, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, heute zu hören Gelegenheit hatten – Aussagen, ganz nebenbei bemerkt, die mir den Eindruck größter Wahrhaftigkeit machten, und die meines Erachtens kaum angezweifelt werden dürfen – Kräjenbühl also, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, verherrlicht diese Tat als die einer Befreiung, schildert den Mord des vorgenannten Tell als eine edle und heldenhafte Tat, ja, errötet nicht, der unschuldigen Jugend verbrecherisches Feuer in die Adern zu gießen, indem er diesen Tell geradezu als ein Vorbild, ‹welchem wir alle nachstreben sollen› – es sind dies seine eigenen Worte – hinstellt.
Um die volle Tragweite dieser Handlung gebührend zu würdigen, müssen wir, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, so sehr es auch unser Empfinden stoßen mag, uns mit besagtem Wilhelm Tell und seiner traurigen Geschichte befassen. Sie kennen sie ja aus den heutigen Verhandlungen, ich brauche sie daher nicht in all ihren grauenvollen und empörenden Einzelheiten zu wiederholen. Wilhelm Tell ist ein Mensch, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, der die bestehenden Gesetze, die staatliche Ordnung nicht anerkennt und das Gesetz übertritt, welches ihm gebietet, einen Hut, dem außer ihm jeder loyale, rechtschaffene Staatsbürger seine Referenz erweist, zu grüßen. Vom Vertreter der Regierung über diesen Ungehorsam zur Rede gestellt, behauptet er zunächst, er hätte den Hut nicht beachtet und dann, wie er sieht, daß diese nicht gerade intelligente Ausrede nicht verfängt, wird er trotzig. Schon dieses Ausweichen auf das Befragen des Herrn Regierungsvertreters Geßler läßt die Wahrheitsliebe Tells in einem sehr schiefen Lichte erscheinen und kennzeichnet seinen verschlagenen, verbrecherischen Charakter. Aber an dem nicht genug. Nach langem bequemt er sich dazu, die ihm auferlegte Buße, den Apfelschuß zu vollziehen. Und gleich darauf droht er, indem er zu Herrn Geßler sagt: ‹Und deiner wahrlich hätt’ ich nicht gefehlt.› Meine Herren, diese Sprache gegenüber einem Beamten ist bezeichnend. Nicht nur erlaubt sich der Mann den Vertreter seiner Regierung zu duzen, sondern er hat auch noch die Stirne, ihm ins Gesicht zu schleudern, daß er ihn zu morden beabsichtigte. Er wird verhaftet, soll nach Küßnacht überführt werden, entweicht und lauert nun dem Regierungsvertreter in der sogenannten hohlen Gasse auf. Kalten Blutes bereitet dort der Bösewicht seine Mordtat vor, keinen Augenblick ist er von der bevorstehenden Tat beunruhigt – ja, er hat noch die Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit, bis zum Augenblicke, wo er den Mord begeht, einen stilistisch bemerkenswerten Monolog zum besten zu geben. Und nun kommt Herr Geßler, nichts Böses ahnend, froh, dem fürchterlichen Sturme, dem drohenden Tode entgangen zu sein, die hohle Gasse hinauf geritten. Für einen normal fühlenden Menschen wäre diese wunderbare Rettung des Regierungsvertreters ein Wink des Himmels gewesen; nicht so für Tell. Feig, hinterlistig, ohne sich zu zeigen, schießt er den Ahnungslosen nieder und hat nachher noch den traurigen Mut, den Sterbenden zu verhöhnen: ‹Du kennst den Schützen, suche keinen andern› usw. Dann flieht er. Er stürzt durch seine Tat den wohlgefügten Staatsbau; sein Beispiel reißt die Massen mit und die übrigen Regierungsvertreter fallen als Opfer der wahnsinnigen Menge. Herr Obmann, meine Herren Geschworenen! Dieser Tell, dieser kaltblütige Meuchelmörder war ein Anarchist der Tat, ein wahnwitziger Verbrecher, der vor dem Morde nicht zurückschreckte, um seinen politischen Zielen freie Bahn zu machen. Da es ihm auf gesetzlichem Wege nicht gelingt, sein Ziel zu erreichen, ist ihm der heimtückische Meuchelmord gerade gut genug. Kein einziger Zug, der auch im entferntesten unsere Sympathie verdiente.
Caserio, als er den Präsidenten Carnot erdolchte, mußte wissen, daß er ergriffen werde; Luccheni, als er die Kaiserin Elisabeth mordete, wußte, daß er seine Freiheit aufs Spiel setzte; Angiolillo, als er den Ministerpräsidenten Canovas tötete, riskierte sein Leben offen, Mann gegen Mann; Bresci, als er Umberto umbrachte, wußte ebensogut wie Colgosz, als er den Präsidenten Mac Kinley beseitigte, daß es für sie kein Entrinnen mehr gab – Tell wagt nicht sein Leben, er schießt aus dem Hinterhalt, feig, hinterlistig – und verduftet. Die russischen Bombenwerfer wissen, daß die Bombe, welche den Feind beseitigt, auch ihrem Dasein ein jähes Ende bereitet – Tell sucht vor allen Dingen sein eigenes kostbares Leben in Sicherheit zu bringen. Und der Mann, der sich dieser niederen, unqualifizierbaren, feigen Handlungsweise schuldig macht, ist in den Augen unseres Kräjenbühl ein Nationalheld, ein Befreier, dem wir alle nacheifern sollen. Und wem sagt er das, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen? Wenn er es noch unter seinen blutrünstigen Gesinnungsgenossen, seinen anarchistischen Kollegen gesagt hätte, dann könnte man es am Ende noch begreifen, dann wäre er wenigstens einigermaßen durch die Gesellschaft, mit welcher er offenbar in enger Fühlung steht, entschuldigt. Aber, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, er mißbraucht sein heiliges Amt in der Schule; seinen Schülern, Kindern gegenüber hält er anarchistische Brandreden, macht er Propaganda für den politischen Mord, verherrlicht er das Verbrechen, indem er die Kinder zur Nacheiferung des Meuchelmörders Tell auffordert!
Er beruft sich dabei auf einen gewissen Schiller. Wie Sie heute gesehen haben, hat sich der Gerichtshof die Mühe genommen, Näheres über diesen Schiller in Erfahrung zu bringen. Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, wir wissen heute, daß dieser Schiller ein schriftstellerndes Subjekt war, der seinen Lieblingsumgang bei Mordbrennern und Räubern à la Spiegelberg, Moor, Schufterle suchte und fand.
Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, es gilt hier ein Exempel zu statuieren. Es gilt hier unsere Jugend vor exaltierten Köpfen zu bewahren, die den geheiligten Boden der Schule mißbrauchen zur Verbreitung des anarchistischen Prinzips, des Prinzips des kaltblütigen Mordes. Es gilt die Schule zu befreien von dem alle bestehende Ordnung unterwühlenden Geiste des Tell, des Ausländers Schiller, des Lehrers Kräjenbühl, der die Stirne hatte, in der heutigen Verhandlung sein Verbrechen ‹eine patriotische Gesinnung bezeugende Tat› zu nennen.
Mildernde Umstände, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, werden Sie dem Angeklagten kaum zubilligen können. Freilich ist er bis jetzt nicht vorbestraft, allein, hat er uns nicht selbst zugestanden, daß er seit Jahren die Jugend in dieser staatsunterwühlenden Weise unterrichte? Hat nicht sein heutiges zynisches Geständnis vor dem Gerichtshofe bekundet, daß wir es hier mit einem Anarchisten, einer Verbrechernatur reinsten Wassers zu tun haben? Hat er uns nicht zugeben müssen, daß seine Lieblingslektüre aus Büchern von Schiller, Heine und derartigem Gesindel bestehe?
Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, das Vaterland ist in Gefahr, man vergiftet uns unsere Jugend, haucht ihr den Geist der Zerstörung des Bestehenden auf den Schulbänken ein, fordert sie auf, Mördern nachzueifern! Das dürfen wir uns nicht, das werden Sie sich nicht bieten lassen, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, wir wollen keine Mörder erziehen und wollen die Gesellschaft von Elementen säubern, die die Jugend zu anarchistischen Verbrechen anleiten.
In diesem Sinne, Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, beantrage ich Ihnen den Angeklagten im Sinne der Anklage schuldig zu erklären:
1. der öffentlichen Aufforderung und Anleitung zur Begehung anarchistischer Verbrechen im Sinne es B.-G. betreffend Ergänzung des Schweizerischen Bundesstrafrechtes vom 26. März 1906; 2. des Amtsmißbrauches im Sinne des Art. 91 des Strafgesetzbuches; 3. Dem Angeklagten seien mildernde Umstände nicht zuzubilligen.»
Eindrücke des Geschworenen
Fast drei Wochen hat es gedauert. Wir waren unser vierzehn Männer aus dem Volke, die geschworen hatten, «vor Gott und vor den Menschen mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit die gegen und für den Angeklagten vorgebrachten Beweise zu prüfen, uns in der Ausübung unserer Obliegenheiten nicht durch Interesse, Schwäche, Hoffnung, Furcht, Gunst oder Haß leiten zu lassen, weder für den Angeklagten noch für die Staatsanwaltschaft ein vorwiegendes Interesse zu nehmen, sondern nur nach den bevorstehenden Verhandlungen, unserer innigsten Überzeugung und unserem Gewissen gemäß, mit der Unparteilichkeit und Festigkeit zu urteilen, welche einem redlichen und freien Manne geziemen.» Und jeder von uns wurde nach Verlesung dieser Eidesformel bei seinem Namen aufgerufen und antwortete mit erhobener Hand: «Ich schwöre es, ohne alle Gefährde, so wahr mir Gott helfe.» Nur diejenigen unter uns, welche aus Überzeugung keinen religiösen Eid ablegten, antworteten: «Ich verspreche es!»
Wir waren unser vierzehn Männer aus dem Volke, berufen, während fast drei Wochen über unsere unglücklichen Mitmenschen, über die, welche man Verbrecher nennt, zu Gericht zu sitzen und zu urteilen. Das Gesetz verlangte von uns keine Rechenschaft über die Gründe unserer Überzeugung; es schrieb uns keine Regeln vor, nach welchen wir einen Beweis für vollständig und hinlänglich annehmen sollten; es schrieb uns nur vor, unser reines Gewissen bei ruhiger und gesammelter Überlegung zu befragen, welchen Eindruck die für und gegen den Angeklagten erbrachten Beweise auf uns gemacht hätten. Das Gesetz richtet nur die einzige Frage, die alle ihre Pflichten umfaßt, an die Geschworenen: «Habt ihr die innige Überzeugung der Schuld des Angeklagten?»
So lautet die Instruktion, welche vor jeder Verhandlung uns in Erinnerung gerufen wurde. Fast drei Wochen lang, Tag für Tag.
Wir waren unser vierzehn Männer aus dem Volke. Von ihm zu seinen Richtern bestellt, von ihm berufen zu urteilen über die Schuld oder Nichtschuld einzelner Volksgenossen. Und wir haben unseres Amtes gewaltet nach dem Wortlaut des Gesetzes, ohne Ansehen der Person, wie es redlichen und freien Männern geziemte, unserm Gewissen gemäß. Und wir konnten und mußten das; der uns ins Beratungszimmer mitgegebene Fragebogen war die einzige Richtschnur unserer Verhandlungen. Wir haben alle gesetzlichen Förmlichkeiten erfüllt, haben uns durch nichts beeinflussen lassen als durch den Eindruck, den uns die Verhandlung gemacht, wir haben unsere Wahrsprüche abgegeben und sind, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Gerichtssaal zurückgeschritten, haben unsere Plätze eingenommen, haben, ohne mit der Wimper zu zucken, die Urteile vernommen, welche das Richterkollegium, gestützt auf unsere Wahrsprüche, fällte; Urteile, die manchen unserer Mitbürger, unserer Volksgenossen, auf Jahre hinter öde Gefängnismauern verbannte, auf immer aus der Reihe der makellosen Menschen strich. Und wir blieben ruhig dabei, im Bewußtsein, nach Recht und Gewissen die uns vorgelegten Fragen beantwortet zu haben.
Kein anderer Zug war auf unseren Mienen bemerkbar als der der Genugtuung, die lange, ermüdende Verhandlung enden zu sehen und wieder frei zu sein, die vom langen Sitzen erstarrten Glieder wieder recken zu dürfen. Und wenn der Präsident des Gerichtshofes das sakramentale Wort sprach: «Das Urteil ist hiermit eröffnet, der Verurteilte wird abgeführt; ich erkläre die Sitzung als geschlossen!» dann atmeten wir erleichtert auf. Und während sich die Gefängnistüre auf Monate und Jahre hinter dem Verurteilten schloß, verließen wir, erleichtert, hungrig und froh, raschen Schrittes das Gerichtsgebäude, unter uns über den soeben verhandelten Fall unsere Meinung austauschend, wo dann recht oft, es freut mich, das zu sagen, warmes, menschliches Mitgefühl mit den Verurteilten zur Geltung kam.
Nun haben wir wieder für einmal die Aufgabe gelöst, welche das Volk, als es uns zu seinen Richtern wählte, uns gestellt. Wir haben unsere Taggelder in Empfang genommen und hörten, flüchtigen Ohres, wie uns der Vorsitzende des Gerichtshofes unsere Arbeit und unsere Ausdauer verdankte. Nun sind wir wieder freie Menschen. Und wenn ich nun die Reihe der Erlebnisse durchgehe, welche in den drei Wochen an mir vorübereilten, so sehe ich mich wieder zurückversetzt auf meinen Sitz auf der Geschworenenbank, ich sehe wieder, eines nach dem andern, die bleichen, verhärmten Gesichter der Angeschuldigten vor mir auftauchen, und jedes schaut mich mit fragendem Ausdrucke an, als wollte es sagen: «Mit welchem Recht bist du über mich zu Gericht gesessen? Wer gab dir das Recht und die Einsicht, über mich und meine Taten ein Urteil zu fällen?» Ein unbehagliches Gefühl, das mich oft schon während den Verhandlungen beschlich und das ich nicht loszuwerden vermag. Wie oft, während ich auf meinem Platze saß, flog mein Blick zu dem Angeklagten hinüber, der Jammergestalt, die dort ihres Urteils harrte. Und wie oft drängte sich mir dann die Frage auf, warum der dort und ich hier sitze. Und wenn ich den Gedanken weiter spann, dann grinste mir als einzige Antwort das einzige Wort entgegen, das schreckliche, unerbittlich kalte, das eisige Wort: «Zufall!»
Was kann er dafür, der da vor mir sitzt und den ich beurteilen muß, daß gerade er und nicht ich der Verbrecher ist von uns beiden? Was hat ihn zum Verbrechen geführt? Lauter Momente, die, wären sie an mich herangetreten, mit zwingender Notwendigkeit auch mich zum Verbrecher gemacht hätten – jeden von uns, die wir heute durch die Verfügung des unergründlichen Zufalles seine Richter sind. Und ich denke mir den Angeklagten um viele Jahre zurück, ich denke ihn mir als zarten, kaum zum Leben erwachten Säugling, dessen Bewußtsein noch in den Anfängen schlummert. Damals waren wir gleich. Gleich gut, gleich verdorben.
Oder nicht? War er schon damals vorausbestimmt zum Verbrecher und ich zu seinem Richter? Bestimmte schon damals der Zufall, der die Rollen ebensogut vertauschen konnte? Warum war gerade er der erblich Belastete, zum Verbrecher Bestimmte, nicht ich? Woher die ungerechte Rollenverteilung der Vorausbestimmung, wenn es eine solche gibt? Ich leugne sie. Aber die Belastung, von der ich sprach, leugne ich nicht. Warum war gerade er der erblich Belastete, nicht ich, der ich heute sein Richter bin? Und wenn er nicht belastet war von jenem Erbübel, an dem die Menschheit krankt, für das er so wenig wie ich verantwortlich ist, noch verantwortlich gemacht werden kann, warum gingen unsere Wege so weit auseinander? Warum bot ihm die Menschheit nicht, was sie mir geboten; warum mußte er durch Erziehung, durch das Leben inmitten der Menschheit zum Verbrecher, ich zum Richter gedeihen? Was ist es, das ihn zum Verbrecher macht? Was mich zum Richter? Zufall! Zufall ist’s, der mich davor bewahrte, an seiner Statt mit den menschlichen Gesetzen in Widerspruch zu geraten; Zufall ist’s, der meine Erkenntnis schärfer schärfte, meine Unterscheidungskraft mehr als die seine kräftigte, mich in eine gesündere Umgebung pflanzte, mir mehr Widerstandskraft verlieh gegenüber dem, was wir Menschen Verbrechen nennen und was wir bestrafen. Und dieser Mann, der bleich, hager, zitternd vor mir sitzt, dessen Richter ich durch des Zufalls unergründliche Laune bin, der ist mein anderes Selbst, auf anderen Wegen geführt, mein anderes Ich, auf anderm Boden aufgewachsen; der ist mein Bruder, dem der starre Zufall eine andere Rolle zuwies; hart, zwingend, unabwendbar.
Und mein Bruder dort drüben, mein anderes Ich, es schaut mich von der Anklagebank fragend, ratlos an und frägt: «Wer bist du, der du über mich zu Gericht sitzest? Sind wir nicht Brüder, sind wir nicht einer Mutter Kinder? Und diese Mutter war dir gnädig – mir nicht. Mit welchem Recht urteilst du über mich? Mit dem Rechte des Gesetzes, das für alle gleich ist und das gerecht wäre, wären wir alle gleich. Aber wir sind es nicht mehr, wir waren es einst. Der Zufall hat uns die Gleichheit zerstört, der blinde Zufall; und blind ist das Gesetz und ungerecht ist das Recht, das uns alle, die wir ungleich sind, gleich behandelt. Vom Zufall bin ich bestimmt, als Angeklagter vor dir zu erscheinen, und der Zufall gebietet dir, mich, deinen Bruder, dein anderes Selbst, zu verurteilen auf Grund einer Zufallsmoral des gezwungenen Zwanges. Indem du mich verurteilst, verurteilst du dein anderes Selbst, dein anderes verwahrlostes Selbst – dein besseres Selbst vielleicht.»
Und wie ich die fragenden, tiefliegenden Augen des Angeklagten so sprechen höre, da empfinde ich plötzlich die kolossale Lächerlichkeit meiner Rolle, die wilde Scham, ein Spielball des Zufalls zu sein. Und wenn, wie Hammerschläge, Wort für Wort das Urteil von unserm Kammervorsitzenden auf den Angeklagten niederfällt, dann ist es mein Urteil, das dort gefällt wird; ich bin der Verurteilte und er – er? Er ist vielleicht der Glücklichere von uns beiden, denn er hat die Wahrheit nicht von so nahe geschaut. Gewiß! Er ist der Glücklichere, denn ich denke, denke mein Urteil, gefällt vom unerbittlichen Zufall.
Ein Wort zur Prostitutionsfrage
In den letzten Jahrzehnten hat der Kampf um und gegen die Prostitution ganz neue, früher ungeahnte Phasen angenommen. Leute der verschiedensten Richtungen, die diversesten Interessen und Anschauungen vertretend, haben sich zusammengerottet, in einzelnen Gruppen oder in verzweigten Organisationen, um das zu bekämpfen, was alle als einen kulturellen Schaden, einen physischen und moralischen Seuchenherd erkannt haben; die Prostitution.
Die Hygieniker und Moralisten, die Nationalökonomen und Soziologen befassen sich immer intensiver mit der Lösung einer Frage, die sich seit Jahrhunderten jedem Denkenden und Fühlenden stellt und stellen muß, will er auf sein Attribut «Mensch» nicht Verzicht leisten.Herausgekommen ist bei alledem bis zur heutigen Stunde eigentlich so herzlich wenig, daß man sich billig fragen darf, ob es sich denn überhaupt lohnt, einen Kampf, den viele der Kämpfer als hoffnungslos anerkennen, aufzunehmen und durchzuführen.Um darauf eine Antwort zu finden, handelt es sich in erster Linie darum, den Gegner genau zu kennen; mit anderen Worten zu fragen, was denn eigentlich genau genommen die Prostitution ist.
Je präziser und zutreffender die Definition, welche wir dem Begriffe der Prostitution unterlegen, sein wird, je leichter wird es uns werden, das Gegenmittel gegen sie zu finden.Das ist logisch. Es erklärt auch, warum die meisten, auch die edelsten antiprostitutionellen Bestrebungen bis jetzt zu keinem positiven Erfolge führten. Die Prostitution ist meines Erachtens die Unterschiebung eines künstlichen Geschlechtslebens, im Gegensatze zu dem von der Natur gewollten.Das natürliche Geschlechtsleben basiert einzig und allein auf der Selektion oder, wenn man diesen naturgeschichtlichen Begriff in einen philosophischen umwerten will, auf Liebe, das heißt auf gegenseitig freier und freiwilliger Hingabe zur Erzeugung eines neuen Organismus.Das bindende Moment der Prostitution dagegen ist nicht der angeborene Naturtrieb, sondern die Berechnung, die Spekulation, und ihr Endzweck ist nicht das Zeugen, sondern der Genuß. Es folgt daraus, daß, wer gegen die Prostitution Stellung nimmt, logischerweise für die Natur kämpfen müsste, und dieser Kampf müßte in seiner Richtung ein absolut ausschließlicher sein. Der Umstand, daß dieses Moment von den wenigsten Prostitutionskämpfern auf seine Richtigkeit geprüft wurde, hatte notwendigerweise die Erfolglosigkeit der antiprostitutionellen Bewegungen zur Folge. Solange der Kampf auf dem bisherigen beschränkten Boden stattfindet, wird man nie zu einem befriedigenden Schlusse gelangen, man wird der sozialen Seuche wohl einzelne Opfer, nicht aber, und auf das kommt es ausschließlich an, den Nährboden entziehen. Deshalb lassen mich die Schlagwörter wie Abolition, Kasernierung, sanitäre Kontrolle (gerade aus diesem letzten Wort geht hervor, daß die Prostitution von ihren Bekämpfern als etwas Bleibendes, Unheilbares betrachtet wird, und daher suchen sie wenigstens die Wirkungen davon abzuschwächen) kalt wie eine Hundeschnauze.
Alle diese Bestrebungen beweisen durch ihre Kampfesweise, daß ihnen der Kampf nicht als für die Natur, sondern für die Gesellschaft gefochten gilt. Sie bekämpfen die Prostitution nicht als Feindin der Natur, sondern als Gegnerin der Gesellschaftsordnung.
Die Abolitionisten sowohl wie die Kasernisten stellen sich eingestandenermaßen auf den Boden, daß sie an Stelle der antigesellschaftlichen Prostitution die gesellschaftlich anerkannte und staatlich sanktionierte, monogamische Ehe setzen wollen.
Darin liegt nun der große Irrtum, die Lösung zu dem Rätsel des vergeblichen Schaffens.
Diese Kampfesweise wäre nur dann richtig, wenn die Gesellschaft natürlich, nicht entartet wäre und ihre Einrichtungen, also hier besonders die Ehe, den unabweichbaren Gesetzen der Natur entsprächen. Ist dies nicht der Fall, dann zerfallen die sämtlichen gegen die Prostitution unternommenen Sturmläufe in ebensoviele Donquijotterien.
Nun ergibt sich aber schon bei der oberflächlichsten Beobachtung, daß die Gesellschaft unserer Kulturvölker keine natürliche, sondern eine höchst künstliche, komplizierte, atavistische ist.
Es folgt daraus, daß auch ihre Einrichtung, die Ehe, wenig mehr gemein hat mit der von der Natur gewollten Paarung.
Es dürfte, bevor ich weiter gehe, an der Zeit sein, zu erklären daß ich von der Naturgesetzmäßigkeit der Monogamie felsenfest überzeugt bin, denn es könnte sonst dem einen oder dem andern einfallen, ich wolle für freie Liebe plädieren. Dies ist nicht der Fall, obwohl ich der Meinung bin, daß die Gesellschaft sogar durch die plötzliche Dekretierung der freien Liebe nicht korrupter würde, als sie es tatsächlich schon ist. Um jedoch jeder Mißdeutung vorzubeugen und um zu beweisen, daß das Naturgesetz der Monogamie für den Menschen wirklich ein solches ist und nicht «pour les besoins de la cause» aus Hypothesen extrahiert wurde, lasse ich, obwohl es nicht direkt zu der Frage, mit der wir uns momentan beschäftigen, gehört der Wissenschaft das Wort.
«C. N. Starke (so schreibt der ausgezeichnete Fachgelehrte Prof. Dr. Ribbing) hat, gestützt auf ein überwältigendes Material, den Ausspruch getan, daß es nur Unbekanntschaft mit der Lebensweise und der Sinnesart des Wilden ist, welche die Theorie von dessen fortwährenden Geschlechtskrankheiten aufstellen und darauf die Lehre von der Promiskuität als dem ursprünglichen Geschlechtsverhältnisse aufbauen konnte. Nach der Ansicht desselben Verfassers hat es monogamische Ehen vielfach schon vor urdenklicher Zeit gegeben, und diese geordneten Verbindungen wurden von der Notwendigkeit, die Arbeit zwischen Mann und Weib zu teilen und von dem Bedürfnis der Gründung eines Haushaltes veranlaßt. Die Promiskuität in den Geschlechtsverhältnissen erweist sich dagegen als ein erst später hinzugekommener Zustand, als ein Ausdruck des weiter fortgebildeten Familien- oder Clansinnes, der sogar innerhalb der Ehen den einzelnen Kontrahenten das ausschließliche Besitzrecht aufeinander bestreitet.»
Und Ribbing fährt fort: «Fragen wir zuvörderst die Natur um ihre Meinung, so antwortet dieses, daß sie unter allen einigermaßen normalen Verhältnissen das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern zu erhalten sucht. Das erreicht sie nicht in der Weise, daß gleichviel Wesen von jedem Geschlechte erzeugt, sondern es werden, in Hinsicht der größeren Sterblichkeit männlicher Kinder schon bei der Geburt. sowie in späteren Perioden, zunächst eine größere Zahl männlicher Früchte gezeugt; dieses Übergewicht ist sogar so bedeutend, daß trotz der vermehrten Geburtsgefahr für männliche Früchte die Anzahl der lebendig gebornen Knaben in allen Ländern und bei allen Völkern die Nativitätszahl der Mädchen übersteigt. Es gibt kein statistisches Gesetz, das so allseitig bewiesen und begründet wäre wie das, daß mehr Knaben als Mädchen geboren werden.»
Nun läßt Ribbing zum Belege Zahlen sprechen, welche es wohl verdienten, auch wiedergegeben zu werden, wenn es der Raum gestattete. Ich beschränke mich daher, nur noch folgendes zu zitieren: «Eigentümlich ist das Bestreben der Natur, nach entstandenem Mißverhältnis zwischen den Geschlechtern das Gleichgewicht herzustellen. Den stärksten Einfluß üben natürlich Kriege aus, und gleich nach einem verheerenden Kriege findet man, daß obiges Verhältnis (5–50 Prozent mehr männliche als weibliche Geburten) von dem der vorhergegangenen Volkszählung abweicht.» Die Statistik, die der Verfasser nun folgen läßt, beweist seinen Lehrsatz so eindringlich, daß es einfach unmöglich ist, sich seiner Richtigkeit zu verschließen. Die absolute Sicherheit dieser Tatsache wird übrigens noch durch die andere erhärtet, daß dort, wo die Weiber in zu großer Minderheit sind, die Mädchengeburten ausnahmsweise die Knabengeburten numerisch übersteigen. Dies ist zum Beispiel in denjenigen nordamerikanischen Staaten der Fall, wo es infolge ausschließlicher Männereinwanderung an Weibern fehlt.
Ich denke, daß diese Tatsachen hinreichen sollten, um die Legende der Überproduktion von Weibern zu zerstören. Mit ihr fällt selbstredend der daraus gezogene Schluß der Notwendigkeit und Naturgesetzmäßigkeit der polygamischen Veranlagung des Mannes in sich selbst zusammen, und dieselbe Logik auf die bewiesene Wahrheit statt auf die supponierte Hypothese abgestellt, bildet die Apotheose der Monogamie bzw. der Monoandrie.
Die Abschweifung war vielleicht etwas lang, aber ich erachte sie als notwendig, weil man mir ohne sie vielleicht nicht geglaubt hätte, daß es mir nicht aufs bloße Querulieren ankommt, und wenn ich jetzt behaupte, daß die gesellschaftliche Ehe ebensosehr von der Natur entfernt, das heißt ebenso prostitutionell ist wie die Polygamie, so darf ich nun erwarten, daß man mich, ohne gleich Zeter und Mordio zu schreien, ruhig anhört.
Die große Mehrzahl der gesellschaftlichen Ehen, die wir kennen, sind nämlich, wenn wir sie unvoreingenommen unter die Lupe nehmen, nichts anderes als prostitutionelle Äußerungen, welche in Gemeinheit und Abscheulichkeit die Straßen- und Bordellprostitution nicht nur erreichen, sondern sehr oft noch um ein Erkleckliches übertreffen.
Wir stellten fest, daß das Wesen der Prostitution einmal in dem merkantilen, und zum anderen in dem bewußt und gewollt sterilen Momente besteht. Von dem Augenblicke an, wo wir dies anerkennen, müssen wir logischerweise jede Geldheirat, jede eheliche Vereinigung, der etwas anderes zugrunde liegt als gegenseitige Zuneigung, jede Ehe, in der der Kindersegen total oder teilweise unterdrückt wird, als prostitutionelle Erscheinung auffassen. Daß gerade diese Ehen leider häufiger sind als die naturgewollten, gesunden Ehen, wird heute nur von denen bestritten, welche unsere gesellschaftlichen Verhältnisse nicht kennen oder, weil es ihrem Quietismus zu nahe tritt, nicht kennen wollen.
Daher betrachte ich es als einen Akt gelinden Blödsinnes oder des Betruges, ein korruptes Institut wie unsere gesellschaftlich anerkannte, kirchlich und staatlich sanktionierte Ehe eines ist, gegen die Prostitution im engeren Sinne austrumpfen zu wollen. Das nenne ich den Teufel mit Beelzebub austreiben, das ist eine nichtswürdige, heuchlerische Straußenpolitik, welche nur dazu dient, dumm-sentimentale oder auch heuchlerische Gewissen in behaglichen Schlummer zu wiegen. Ich vollbringe noch nichts Großes, wenn ich einen ausschweifenden Jüngling mit einer Dirne gesetzlich zusammenkupple, wenn die Ausschweifungen in der Ehe nur ihre Fortsetzung finden. Im Gegenteil, dann habe ich dadurch, daß ich dieses Verhältnis durch den Staat legalisieren und durch die Kirche segnen ließ, im Grunde nur noch eine häßlichere Form der Prostitution gesegnet und legalisiert.
Eine noch häßlichere Form?
Gewiß! Denn auch wenn sich jetzt eines der beiden Individuen moralisch heben möchte, so ist ihm der langjährige Genosse in dem Verbrechen gegen die Natur zum Hemmschuh geworden, und es gibt kein anständiges Mittel zum Rückzug. Das einzige, was vor dem Gesetze gilt, um die Trennung einer solchen Ehe wirksam durchzuführen, besteht in einer neuen Bestialität, einem neuen Verbrechen. Nun kenne ich viele, die mir bis zu diesem Punkte gefolgt sind und meine Behauptungen gutheißen. Allein, wenn ich nun die praktischen Konsequenzen ziehe, dann können sie nicht mehr mitmachen.
Ich sage nämlich: Wenn es erwiesen ist, daß die gesellschaftliche Ehe, welche vom Staat und der Kirche anerkannt ist, sich gegenüber dem innersten Wesen der Prostitution im günstigsten Falle neutral verhält, wenn sie gegen die Prostitution selbst kein wirksames Mittel, sondern in vielen Fällen sogar eine Form der Prostitution selbst ist, dann ist es die höchste, aber die allerhöchste Zeit, daß diese Ehe abgeschafft wird. An ihre Stelle trete die von Natur gewollte Monogamie, die freie Zuchtwahl.
Man schaffe den Zwang ab, der Mammon und Adel, große Namen mit hübschen Larven vermählt, man lebe der freien Ehe, der Ehe der reinen Liebe. Glaubt nicht, daß wir noch unsittlicher werden, als wir es jetzt schon sind. Laßt die Natur walten, in ihr allein ist Gesundheit, Schönheit, Glück! Glaubt nicht, daß dabei die freie Liebe auf ihre Rechnung komme, denn freie Menschen sind nicht gemeine Menschen, die prostituieren sich nicht!
Es lehrt uns die Erfahrung, daß die Sanktion des Staates allein kein moralisches Bindemittel ist, mit dem man zwei Wesen auf Lebenszeit aneinanderkettet. Die Ehen (und dies sind Ausnahmen), welche sittlich rein sind, wären es auch, wenn sie Konkubinate wären. Das Gesetz kann mich wohl bestrafen, wenn ich meiner Frau nicht treu bin, allein, es hat nicht die Macht, mich zu der ehelichen Treue zu zwingen. Wenn ich meine Ehe prostituiere, so tue ich es sogar unter dem Schutze des Gesetzes, desselben Gesetzes, das mich bestraft, wenn ich im Konkubinat treu bin. Gebt das Konkubinat frei, stellt es als den rechtmäßigen Zustand hin, und an Stelle des vormals staatlichen Zwanges, des rein äußerlichen Gesetzes wird etwas anderes treten, das von innen heraus kommt und tiefer, nachhaltiger wirkt, das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit sich selbst und dem Nächsten gegenüber. An Stelle der Knute der kategorische Imperativ!
Ich bin mir hier sehr wohl bewußt, daß ich mich, indem ich der gesellschaftlichen Ehe den Fehdehandschuh hinwerfe, in Acht und Bann stelle. Die Mildesten werden vielleicht ein mitleidiges Achselzucken für mich übrig halten und von einem verrückten Utopisten sprechen. Aber dagegen gibt es ein Mittel, und das ist die Logik.
Stellen wir uns also zu der Frage der freien Ehe als reine Utilitätsmenschen, und wir werden sehen, daß von dem gemeinen Nützlichkeitsstandpunkt die an keinen äußeren Zwang gebundene Monogamie durchaus richtig ist.
Vom Augenblicke an nämlich, wo die Ehe nicht mehr eine staatliche Institution, sondern ein reiner Privatvertrag, der sich jederzeit künden läßt, ist, haben wir eine Gewähr besserer Ehen in dem natürlichen, arterhaltenden Egoismus. Die Ehe, die bisher nur von dem lockeren Bande des Gesetzes zusammengehalten wurde, gewinnt eine höhere moralische Bedeutung.
Es ist selbstverständlich, daß das Interesse beider Kontrahenten in der möglichst langen Dauer des ehelichen Zusammenlebens liegt. Dies bedingt, daß einmal in der Wahl eines Lebensgefährten oder einer Lebensgefährtin mehr Gewicht auf deren moralische als auf deren gesellschaftliche Eigenschaften gelegt wird, und das allein ist an sich schon ein immenser Fortschritt. Zum andern wird das Gespenst der Möglichkeit einer Aufhebung des ehelichen Übereinkommens gewiß nicht verfehlen, auf beide Kontrahenten einen nachhaltigen und moralisch hebenden Einfluß auszuüben. Der Prostitution bleibt von dem Momente an kein Raum mehr übrig, als es jedem einzelnen Individuum freisteht, sich nach seinem Herzen und nicht nach seinen äußeren Verhältnissen zu verheiraten. Nun weiß ich ebensowohl wie die Sittlichkeitsverfechter «ex officio», daß durch die Einführung der freien Ehe allein nur ein erster Schritt auf der zu beschreitenden Bahn getan wäre. Ich verschließe mich der Erkenntnis nicht, daß damit allein der Prostitution wohl Abbruch getan, daß sie aber nicht ausgeschaltet würde.
Dazu bedarf es einer Reorganisation unserer Gesellschaftsordnung, eines auf rein sozialer Grundlage aufgebauten Staates. Wenn Rousseau sagt, daß die soziale Frage in dem Momente entstand, als einer behauptete, ein Acker gehöre ihm und der andere dumm genug war, es zu glauben, so können wir mit Fug und Recht hinzufügen, das in jenem Augenblicke auch die Prostitution entstand. Auf der Grundlage eines ausgesprochen plutokratischen Staates wird die Prostitutionsfrage stets das schreckenverbreitende, immer schleichende und drohende Gespenst sein. Um sie aus der Welt zu schaffen, bedürfte es der Abschaffung nicht des Privatbesitzes, wohl aber des Privateigentums.
Darin liegt der Grund, warum die Sittlichkeitsapostel aller Nuancen und die Prostitutionsbekämpfer aller Gattungen nur temporäre und nicht nachhaltige Erfolge aufzuweisen vermögen. Deshalb vermögen sie es auch nicht, mir irgendwelche Achtung abzuringen, es sei denn die, welche ich der gigantisch erhabenen Dummheit zolle.
Darum ist es aber nicht weniger nötig und nicht weniger lohnend, in Erwartung des Idealstaates ihm durch die Einführung der freien Ehe die Wege zu ebnen. Die freie Ehe ist eine Kulturtat, eine dringende soziale Forderung. Daher nieder mit der verseuchten und prostitutionellen Staatsehe!
Weihnacht
Das große Kinderfest ist wieder da, das schönste Kinderfest der Großen und Kleinen. Weihnacht! Welche Fülle von seligen Erwartungen bringst du den Kleinen; welche Menge sonniger Erinnerungen aus hellen Jugendtagen zauberst du vor die Seele der Großen, die einen Augenblick im langen Jahre wenigstens vergessen, welch ernste Menschen sie sonst sind und wieder Kind unter Kindern werden, sich wieder in schlichter Freude freuen am hellen Glanze deines Weihnachtsbaumes.
Sei willkommen, trautes, heimeliges Fest der Jugend; laß uns vergessen, daß wir sonst griesgrämige Verstandesmanschen sind, bade uns, und wenn es auch nur auf wenige Augenblicke wäre, in dem Jungbrunnen deiner herzerfreuenden Zaubermacht, gib uns die Freude des Kindes, laß uns einen Hauch jener längstverwehten Poesie, die einst uns glücklich machte, verspüren. Weihnacht!
Schmelze mit deiner warmen, traulichen Lust den eisigen Panzer des Alltagslebens von den Herzen; komm, wärme, taue auf all die Erstarrten im wirbelnden Sturme des Lebens – alle Türen, alle Herzen sind dir offen; du wahres, deutsches Jugendfest, das Sonnenstrahlen glücklicher Gegenwart, froher Vergangenheit in die lange, starre Kälte des Winters bringt.
In diesem Sinne dachte ich mir dieses Jahr das Weihnachtsfest zu begrüßen, und nun, statt weiter zu schreiben, fröhlichen, erwartungsvollen Herzens, entsinkt mir die Feder, und unwillkürlich eilen meine Gedanken über den Schreibtisch hinaus, weit weg über Berge und Täler, Flüsse und Steppen; ich sehe tausende und abertausende modernde Leichen wesen unter dem bleigrauen Himmel der ostasiatischen Schlachtfelder; ich höre das sinnverwirrende Prasseln der Granaten und sehe die Menge Menschen, Menschen wie wir, wie sich ihr verglastes Auge verzweifelnd gen Himmel richtet, wie ihr erschöpfter, blutiger Körper zuckt – und hinfällt – und stirbt. Und mein Geist eilt weiter in ein Land, das keinen Winter kennt, ein herrliches Land der Märchen und der Träume, nach Indien, dem geheimnisvollen, reichen, schönheitsschwülen. In jenem herrlichen Land sehe ich Menschen, Menschen sie wir, nur hager und elend – sie streiten sich um eine Handvoll Reis, und hinter ihnen steht ein grauenvolles Gespenst, ein fahles, widerwärtiges, und wetzt seine Hippe, die Arbeit zu vollenden, die der nagende, zehrende, brüllende Hunger begonnen – es ist die Pest.
Und weiter eilt mein Geist und führt mich in eine öde Steppe, wo Sand und kurzes, verbranntes Gras miteinander abwechseln, wo nichts gedeiht als einige dürftige Kaktuspflanzen – in der Ferne starren die düsteren Gerippe abgebrannter Farmen in den rotglühenden Himmel und die Sonne sengt, brennt, erstickt! Da regt sich in der Steppe etwas – ein Trüpplein entkräfteter Soldaten windet sich mühsam durch Gras und Sand, mechanisch setzen sie einen Fuß vor den andern, ihre Augenlider senken sich; vor den trüben Augen flimmert’s und glitzert’s, nur ab und zu rafft einer sich auf und spricht etwas, das wie ein deutsches Kommando tönt: Es sind deutsche Soldaten der Schutztruppe, die ausgezogen sind, schwarze Menschen zu töten; Menschen wie wir, die Schwarzen und die Weißen.
Und heimwärts eilt mein Geist, schweift durch die taghell beleuchteten Straßen der Großstädte, zeigt mir ihr Elend und ihr aufgeputztes Laster, dann schweift er ab in kleine Mansardenwohnungen, führt mich zu Armen und Kranken, welche darben, bis der Tod sie erlöst, denn es sind Menschen, Menschen wie wir, die dort zugrunde gehen im Taumel des Lasters, erwürgt vom Elend. Und ich sehe hunderte von Menschen, die sich zusammenrotten, die schreien und wüten, die Brot und Freiheit fordern, und ich höre Schüsse fallen, Wehegeheul durchzittert die Luft, warmer Blutdampf raubt mir den Atem – und wieder sind es Menschen, Menschen wie wir, die dort bluten und sterben.
Und zwischenhinein in die spärlichen Ruhepausen der immer sich erneuernden Leiden der Menschheit klingt ab und zu wie ferner Engelsgesang aus lichten Höhen eine herrliche Weise:
Ehre sei Gott in der Höhe,
Friede auf Erden
Und den Menschen ein Wohlgefallen!
Bald klingt es wunderbar traulich und tröstlich, das Lied aus fernen blauen Höhen, und dann wieder wie höllischer Dämonenspott.
Und wie aus einem schweren Traum erwache ich und will einen Weihnachtsartikel schreiben, ein paar Zeilen jubelnder Weihnachtsfreude; will mich versenken in die Liebe des Mannes, der zu Bethlehem im Stalle geboren, der sich Friedensfürst nannte und Erbarmen lehrte. Aber die wahre, warme Weihnachtsfreude kommt nicht in mir auf, die düsteren Traumgestalten haben sie verscheucht und eine hohle Freudenstimmung heucheln mag und kann ich nicht.
Ehre sei Gott in der Höhe,
Friede auf Erden
Und den Menschen ein Wohlgefallen!
Wie schön das klingt; wie schön das ist, wie lieb, wie traut – wenn nur die verdammt brutale Wirklichkeit nicht wäre mit ihrem Jammer, ihrem Elend, ihrem versengenden, nie endenden Weh.
Menschen! Brüder! Christen! Alle, die ihr heute das Geburtsfest des Welterlösers feiert! Wie steht’s damit? Ich meine mit der Ehre Gottes, dem Frieden auf Erden, dem Wohlgefallen der Menschen? – Antwortet einmal aufrichtig – Christen, die ihr so gern wiederholt, daß die ganze Welt sich vor dem Zeichen des Kreuzes beugt, welches jener stille Dulder trug und dessen Nacheiferer, dessen Jünger ihr euch nennt – wie steht’s damit?
Zweitausend lange Jahre sind seither vorbeigerauscht, und das Christentum ist gar mächtig groß geworden, hat, wie ihr sagt, die Welt erobert, und noch immer ist Gott nicht geehrt, noch immer kein Friede auf Erden, noch immer kein Wohlgefallen der Menschen. Wo sich der Blick hinwendet nur Unterdrückung, Gewalt, Mord. Zweitausend Jahre haben noch nicht hingereicht, aus der reinen Lehre des Gottessohnes eine Wirklichkeit zu machen, in der sich leben, glücklich leben läßt.
Christen, wie viele Jahrtausende braucht ihr noch dazu, um die Lehre eures erhabenen Meisters zu einer Lebenstatsache umzuwandeln? Wie viele Jahrhunderte braucht ihr noch, um endlich einmal den Gesang der himmlischen Heerscharen zu einer Hymne der Wahrheit zu gestalten:
Ehre sei Gott in der Höhe,
Friede auf Erden
Und den Menschen ein Wohlgefallen?
Pfingstpredigt
Pfingsten! Fest des üppigsten Lenzesgrüns, Fest der Hoffnung, Fest der Wahrheit, Fest des heiligen Geistes, des göttlichen Genius, auf die Menschen ausgegossen! Erinnerungstag an jene Epoche reiner Begeisterung, trunkener Ekstase, welche Idealisten, Märtyrer erweckt aus den demütigen Scharen armer Fischer, den Jüngern des nazarenischen Zimmergesellen, dessen allumfassende Liebe lodernde Flammen entfacht, den Erdball erobert; Pfingsten! erhabenes Fest unter allen christlichen Festen, sei gegrüßt!
Sei gegrüßt von allen denen, welche noch etwas in sich verspüren von deiner ursprünglichen erhabenen Bedeutung; in deren Brust das wundersame Brausen vom Himmel, ähnlich dem eines gewaltigen Windes, tost beim Klange deines Namens. Gegrüßt von denen, welchen Zungen, zerteilet wie von Feuer, erscheinen und das im Alltagsschlamm des Lebens erstarrte Herz zu neuem, heftigem Pulsieren magisch entfachen, es erfüllen mit dem heiligen Geiste der besseren Erkenntnis und dem Mannesmute der ersten Apostel, für diese Erkenntnis zu kämpfen bis zum Tode… denn es ist eine Sünde, welche nie vergeben werden kann… die Sünde wider den heiligen Geist, den Geist der Wahrheit, den Geist des Lebens.
Jener Geist kennt weder Ziele noch Schranken, ist nicht an Grenzen und Marchen gebunden; wie ein kochender Wildbach bricht er hervor, zum Entsetzen der Gleichgültigen, zum Labsal der durstigen Seelen und redet mit gewaltiger Donnerstimme, verheerend und läuternd zugleich, einem jeglichen in seiner Sprache, der Sprache der rückhaltlosen Begeisterung, welcher sich keiner, auch der Feind nicht, zu entziehen vermag.
O! Daß doch jene Pfingsten wiederkäme, wiederkäme noch einmal in ihrer ersten ungezähmten Gewalt, uns zu reinigen von den Schlacken eines Lebens, welches wir nicht uns, nicht unserer besseren Überzeugung, nicht dem, das wir als wahr und gut erkennen, leben, sondern dem Götzen der starren Überlieferung, der Denkfaulheit, der Lüge, der gesellschaftlichen Heuchelei, der Sünde wider den heiligen Geist der Liebe!
Daß uns jener Geist wieder aufs Neue geschenkt würde, der Glück verheißend sich über jene Demütigen aus Galiläa ergoß, sie beseligte durch den inneren Drang, für ein Ideal zu wirken, das in ihnen lebte, sie befähigte, trotz allem Hohn und aller Anfeindung die Fahne des Ideales hochzuhalten, sich nicht zu ducken, nie zu beugen, mannhaft zu kämpfen um ihr Menschentum.
Wie glücklich mußten sie sein, die das konnten, durften, wollten! Um wieviel höher mußten sie stehen in ihrer Entwicklung zu Menschen als wir Sklavenseelen, welche unsere Meinung, unsere Gesinnung sorgsam verbergen, um der lieben Gesellschaft nicht ein Stein des Anstoßes zu werden, um nicht um den in Aussicht gestellten größeren Vorteil zu kommen, um nicht unser tägliches Brot geschmälert zu sehen! Wir Zwitterwesen, die wir uns unseres Menschentums schämen, es verleugnen und verschachern um niedriger Vorteile willen, welche ein Nichts sind gemessen an dem, was wir dagegen eintauschen. Denn was wir drangeben ist unser Glück, unsere Würde, unser Selbst. Und darin liegt die furchtbare Strafe wider uns Sünder gegen den heiligen Geist, daß wir unglücklich sind und nie befriedigt werden, daß wir uns unter das Tier erniedrigen und zu Automaten herabsinken, daß wir nie teilhaftig werden an jener unerschütterlichen Geistesruhe, die uns über die Sorgen des Alltags erhebt, uns ewigen Frühling, ewige Lust beut.
Statt daß wir, der Lerche gleich, uns im blauen Äther wiegen, zwingt uns die Folge unserer Sünde wider den heiligen Geist, unsere Augen zu Boden zu schlagen, zu wühlen und zu graben, zu rackern und zu haschen nach dem öden Schemen, dessen Name Profit, niederträchtiger Mammon ist. Wie blind stolpern wir an den schönsten Gütern des Lebens vorüber, treten unsere Ideale mit Füßen, kreuzigen ihre Träger, quälen und töten wir uns in grausamer Gier, verfaulen in der dumpfen Atmosphäre des Krämersinnes, und über unsern Häuptern braust unbeachtet und unerkannt die reine Luft, die sonnige, lichtdurchtränkte, die uns Gesundung brächte, uns reinigte, hätten wir nur die Kraft und den Mut, uns zu ihrer Höhe zu erheben, uns, unbekümmert um das graue, heimtückische Gespenst der öffentlichen Meinung loszumachen von den Satzungen der Gesellschaft, um uns selbst gegenüber ehrlich und wahr zu sein.
Daher auch unser Entsetzen, wenn plötzlich ein gewaltiger Orkan des Wahrheitsgeistes zu uns niederbraust, den Schutt aufwirbelt, an dem wir armselig klammern, daher auch der fahle Neid, wenn einmal im Leben es uns, wenn auch nur eine Sekunde, vergönnt ist, hinaufzublicken in das Reich der Wahrheit. Denn Pfingsten ist das Fest des Triumphes über Lauheit und Heuchelei, und wir, die wir mit allen Fasern unseres Herzens heucheln, werden geblendet durch den strahlenden Glanz von oben, schimpfen empört über die sengenden Strahlen reinen Lichts, wir kleinen Menschlein. Wir möchten die Sonne verdunkeln, die uns unsere Lebensschatten kräftiger zeigt, möchten unsere Augen verhüllen und zornig strampeln wie kleine, unartige Kinder.
Das schadet nichts. Die Luft wird nicht weniger rein, das Licht nicht minder strahlend sein, wenn wir uns ihnen auch verschließen. Wir können weiter vegetieren in dem Dunste, den wir uns geschaffen, niemand wird uns daran hindern unser Leben lang. Einmal vielleicht wird uns freilich zum Bewußtsein kommen, daß wir etwas Großes, Herrliches verscherzten, daß unser Leben eine Jagd, eine wilde, aufregende war nach einer Beute, die, von nahem besehen, sich nicht lohnte. Wir werden sehen, daß wir, indem wir den heiligen Geist verschmähten, indem wir der Gesellschaft Weihrauch streuten, dem Erwerbe nachjagten und unsere Seele erwürgten, kapitale Esel waren; wir werden ahnen, daß wir Sklaven waren, und vielleicht werden wir bereuen, werden klagen und weinen. Vielleicht auch nicht, wenn wir zu abgestumpft sind. Ob die schreckliche Erkenntnis, daß unser Leben ein verfehltes war, in uns aufdämmern wird oder ob wir ohne sie in das Meer der Bewußtlosigkeit tauchen, bleibt sich übrigens gleich; verloren sind wir auf alle Fälle, vor allen Dingen uns selbst. Die Sünde wider den heiligen Geist kann nie vergeben werden… darin liegt der Menschheit entsetzliches Weh, ihr erschütterndes Elend.
Und darum wünschen wir jenen Geistesfrühling zurück, jenes fröhliche Erwachen zum Menschentum, jene belebende, immer verjüngende Pfingsten.
* «Puntenöhri» = Point d’honneur.
** «Bauerntäubi» = Bauernzorn.
* Vide Hausfreund, Kalender für das Schweizervolk 1905. Verlag A. Benteli, Bern und Bümpliz.