1950
Zum Raubüberfall in Belp.
In: Berner Tagblatt, Bern, Nr. 262, 23.9.
Der feige Raubüberfall auf den jungen Stationsgehilfen Bähler in Belp hat in der Presse, im Publikum, ja sogar im Grossen Rate, an sich begreiflichen, sozusagen triebhaften, aber affektgeladenen Protesten gerufen, die im wesentlichen darauf hinzielen, die Anwendung des bedingten Straferlasses wesentlich einzuschränken, die Rechtsbrecher härter zu bestrafen, und zwar unter Anwendung peinlicher Körper – und sogar der Todesstrafe.
So begreiflich solche Gemütsaufwallungen unter dem ersten empörenden Eindruck derartiger Verbrechen auch sein mögen, so sehr gebietet jedoch auch die vernünftige Überlegung, sich auf den nüchternen Boden der tatsächlichen Verhältnisse und Gegebenheiten zurückzufinden.
Denn schliesslich besteht doch der einzige, ausschliessliche Zweck jeglicher Strafrechtspflege in der Verminderung der Kriminalität und der dadurch vermehrten Sicherheit des Staates, der Gesellschaft und ihrer Glieder, samt ihren Institutionen, insofern sie erhaltungswürdig sind.
Jahrhundertelange Erfahrungen haben nun mit stets zunehmender Deutlichkeit erwiesen, dass die Härte der Strafen dazu nicht bloss keineswegs das mindeste beiträgt, sondern dass sie im Gegenteil verrohend, also auf die Kriminalität vermehrend wirkt.
Die beiden Belper Delinquenten wurden seinerzeit als Diebe in die Strafanstalt eingeliefert, wo sie sich und andere schwere Kunden erst kennen lernten. Der bedingte Straferlass wurde ihnen damals also nicht gewährt! Das hindert nicht, dass sie, ursprünglich bloss als Diebe eingewiesen, als des Raubmordes Fähige, dazu Ertüchtigte, entlassen wurden! Es ist schwerlich anzunehmen, sie wären „gebesserter“ entlassen worden, hätte man sie obendrein auch noch verprügelt – im Gegenteil! Jegliche Roheit erzeugt neue Roheiten! Die Beobachtungen und Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im In- und Ausland müssten wirklich spurlos an uns vorübergegangen sein, hätten wir schliesslich nicht wenigstens das eingesehen!
Daraus ergibt sich, dass der Strafvollzug, wie er mit wenigen, daher um so preiswerteren Ausnahmen in unserem Lande immer noch geübt wird, seinem Zweck, der Verminderung der Kriminalität, weder entspricht noch zu entsprechen vermag. Davon zeugen die rund 66 bis 67 % seiner rückfälligen Straf- und Haftentlassenen!
Es ist uns hier schon räumlich untersagt, den biologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sittlichen Ursachen der Kriminalität nachzugehen; aber ihre blosse Erwähnung zwingt zu der Einsicht, der Rechtsbrecher falle ihr ebensowohl, und zwar mitunter in wesentlich empfindlicherem Ausmass zum Opfer als die von ihm Geschädigten, so dass ihn sicherlich oft bloss ein verhältnismässig kleiner Teil der Verantwortlichkeit an seinen Delikten trifft.
Bevor wir also mit Prügeln, Strang und Galgen aufwarten, wird es sich, sowohl zum wohlverstandenen dringlichen Vorteil, wie zur Sicherheit des Staates und der Gesellschaft, vor allem empfehlen, dem Rechtsbruch vorbeugend durch geeignete Erziehung, und wenn diese versäumt wurde, durch eine der Wesensbeschaffenheit des Rechtsbrechers wirklich entsprechende Nacherziehung zu begegnen. Um so mehr als sich nachgewiesenermassen überall die erstmaligen Rechtsbrecher aus den Altersklassen vom 15. bis zum 30.Altersjahr rekrutieren und über 80% des gesamten Delinquentenbestandes stellen.
Hier hat der Strafzweck unbedingt dem Erziehungs- und Nacherziehungszweck den Vortritt einzuräumen; denn die herkömmliche Strafe heisst sinnlos verbitternder, unverstanden gewaltsamer Zwang; wohlverstandene Erziehung und Nacherziehung dagegen ethische Festigung des Charakters für das Leben in Freiheit! Strafzwang verlangt vom davon Betroffenen fraglose Verleugnung seiner Persönlichkeit, oft vernunft – und zweckwidrige, seelen- und gedankenlose Unterwerfung, die begreiflicherweise nur so lange vorhält als der Zwang selbst. Die Erziehung dagegen heisst vor allem den Menschen auch im Verirrten, Fehlbaren achten, ihn würdig zu befinden, verstanden, belehrt, geleitet zu werden, bis er der erzieherischen Stütze nicht mehr bedarf und die Reife erlangt hat, sich der Gesell-
schaft, sich und diese fördernd, wieder einzugliedern.
In dieser Hinsicht hat seit 1930 das Jugendrecht in unserem Kanton unübersehbar segensreich gewirkt. Es würde noch segensreicher gewirkt haben, wäre es nicht durch fiskalische Fehlrechnungen, althergebrachte Strafvollzugsanschauungen, die wir vorstehend streiften, dann aber auch durch den dem Bernischen Jugendrecht gegenüber empfindlichen Rücktritt, der sich in unserem StGB kristallisiert hat (Art. 82 bis 100), empfindlich behindert worden. Und dass die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon am Albis, unter der bewunderungswürdigen Leitung des Berners Hrn. Fritz Gerber, heute schon, nach 24 Jahren, bloss mehr 30% (statt wie bei uns mehr als das Doppelte) Rückfälliger aufweist, dürfte denn doch darauf hinweisen, wie dringlich geboten eine grundsätzliche Abkehr vom talionischen, daher verrohenden, ausbeuterisch zweckwidrigen Strafvollzug ist.
Diese und andere Anstalten, auch in Schweden, einigen Staaten der USA u.a. gaben der zuversichtlichen Hoffnung Raum, es könne und werde, binnen einem oder zwei Menschenaltern, die Rückfälligkeitsquote auf 20% oder noch tiefer zurückgedrängt werden.
Da ist ein Weg, den zu begehen wir bis jetzt weder den Mut noch die Einsicht aufbrachten, obwohl ihn uns das StGB einsichtigerweise, wenigstens teilweise erschlossen hat.
Unbestritten sei daneben, dass es jederzeit eine gewisse Anzahl Gemeingefährlicher, Freiheitsunfähiger geben, folglich die Kriminalität schwerlich je vollständig ausgerottet werden wird. Dazu gehörten noch andere, allgemeinere als bloss strafrechtliche Reformen der gesellschaftlichen und staatlichen Struktur überhaupt, die uns vorläufig als noch recht fernes Wunschziel vorschweben.
Allein darum geht es vorderhand noch nicht, sondern darum, die Kriminalität mit allen Mitteln bekämpfend zu vermindern, die Menschlichkeit, Nächstenliebe, Wissenschaft und Erfahrung uns schon heute reichlich zur Verfügung stellen. Wobei nicht zu übersehen ist, dass es auch dem Staat, auch der Gesellschaft nicht erlaubt ist, ungeahndet Böses mit noch Böserem zu vergelten, anders sie sich, zu ihrem eigenen Dauerschaden, am empfindlichsten selbst betrügen.