1908
Wo Bartl den Most holt, oder Edgar Allan Poe und Conan Doyle.
In der: Berner Tagwacht, Bern, Nr. 69, 22.3.
Es ist billig und gilt heutzutage zum guten Ton, über die bekannten „Sherlock Holmes“-Geschichten zu schimpfen. Weil sie unliterarisch seien und auf lauter Sensation ausgingen. Ich gestehe, dass beides zutrifft – sie sind sensationell und unliterarisch, es fehlt ihnen vor allen Dingen an psychischer und materieller Wahrscheinlichkeit. Aber offen gestanden – lesen tue ich sie doch, und zwar mit Vergnügen. Und alle, welche darüber schimpfen, lesen sie auch und ebenfalls mit Vergnügen, und zwar je mehr, je lieber. Gestehen wir es uns offen ein – das Vergnügen besteht gerade darin, dass sie unliterarisch und sensationell sind! Wir sind nun einmal auch so – nämlich unliterarisch und auf Sensation erpicht, und ich sehe wirklich nicht ein, warum wir uns das nicht eingestehen wollten. Etwa, weil wir fürchten, einigen erhabenen Geistern Anlass zur Geringschätzung zu geben? Beruhigt euch, meine Lieben – die erhabenen Geister haben die Sherlock Holmes – Geschichten vor euch und mit grossem Vergnügen gelesen und schimpfen, weiss Gott, nur aus Scham über dieses Vergnügen. Das Schimpfen ist nur eine Gewissensfrage, oder, wenn es ganz gut geht, dann ist noch ein wenig Neid dabei. Ich gestehe es offen, ich würde ganz gern so kolossal gelesen werden wie Conan Doyle – darum habe ich mir erlaubt, ihn gelegentlich ein wenig zu verulken und zu parodieren. Ich habe bald herausgemerkt, dass beides nicht schwer ist, aber schwerer ist es, etwas ebenso Neues zu finden, das ebenso zugkräftig ist, wie sein berühmtester aller Detektive. Wenn ich das mal gefunden haben werde, dann wird mich auch der grösste Leseerfolg nicht davon abhalten, es bis zur Fadenscheinigkeit auszubeuten.
Wer also Freude an Conan Doyles Sherlock Holmes – Geschichten hat, der mag sie lesen; aber ehrlich soll er sein und den Mann, welcher ihm ein paar angenehme Stunden verschafft hat – und Sherlock Holmes verschafft sie sicher – nicht nachher als Sensationshäscher und schlechten Kerl quasi zum Dank zu denunzieren. Das ist gemein!
Conan Doyle ist ein zu netter Mann und liebenswürdiger Knabe, als dass er es verdiente, von den „teutschen“ Philologen und Professoren ins Bein gebissen zu werden. Er hat mehr Gemüter erheitert, als sie alle zusammen, trotz allem Fleiss und aller Gelehrsamkeit, zu langweilen vermögen, und das soll ihm hoch angerechnet sein. Dafür sind wir ihm dankbar, auch wenn er kein Klassiker ist. Und übrigens, die Klassiker, von wem werden sie uns verekelt, als gerade von denselben Philologen und Professoren, welche dem armen Holmes den Krieg erklären. Und haben wir nicht vielleicht gerade deswegen zu Conan Doyle gegriffen, weil uns die Klassiker, welche wir nach den Herren Professoren allein lesen sollten, so gründlich verekelt wurden? Was hat denn der arme Doyle so Böses getan? Nichts, als dass er die gute Idee hatte, einem Allan Poe in die Fussstapfen zu treten und eine seiner Figuren herauszugreifen und sie zu verwerten. Ist es euch ein Trost zu sehen, dass Doyle ein Plagiator ist, wohlan, dann leset die folgende Erzählung Poes – sie enthält das Urbild des Sherlock Holmes mit all seinen wunderbaren Fähigkeiten. Aber schimpft nicht über ihn und hauptsächlich, seid einmal so freundlich und lasst das Argument ruhen, ein Mensch mit dem konstanten Erfolg eines Sherlock Holmes sei eine Ungeheuerlichkeit, eine Unmöglichkeit. Das Leben gibt euch unrecht, und der Umstand, dass eure Kompendien und Abhandlungen von einzelnen, Doyle dagegen von Millionen gelesen wird, auch. In der Literatur wie anderswo entscheidet schliesslich der Erfolg, und ich stelle fest, dass der Erfolg noch nie auf eurer Seite war. Ob ihr einen echten Dichter oder einen nur halbwegs geschickten Epigonen befehdet, ihr seid stets unterlegen. Der Schaffende allein hat recht; Conan Doyle hat recht gegen euch Philologen und Schriftgelehrte. Und wie gesagt, ich bin ihm dankbar, dass er mir Bücher gab, welche mich die euren auf einige Stunden in angenehmster Weise vergessen machten – er, der Epigone von Edgar Allan Poe, welchen ihr, irre ich nicht, ebensowenig mögt wie E.T.A.Hoffmann.
Daneben will ich freilich gelten lassen, dass es manches gibt, das ich höher schätze als Sherlock Holmes, zum Beispiel einige Klassiker. Aber sehen Sie, meine Herren Schriftgelehrten und — Pharisäer, – Kant hat nicht nur seine Kritik der reinen Vernunft an euch verschwendet, sondern er war auch – es ist vielleicht nicht so ganz überflüssig, Ihnen das in Erinnerung zu rufen – einer der besten Billardspieler seiner Zeit.
Warum, meine Herren, sollen wir denn nie Billard spielen, wenn es uns Erholung ist? Und warum nicht Sherlock Holmes lesen?
Sehen Sie, Sie werden mir den Vorwurf nicht machen können, ich empfehle notorisch schlechte Lektüre, oder, wenn Sie es doch tun, dann vergessen Sie eines, nämlich dass es viel weniger darauf ankommt, was, als wie man liest. Es gibt nämlich Leute, welche den Faust anders lesen als die Doyleschen Kriminalgeschichten, und sich an beiden freuen. Ich zähle mich zu ihnen.