1927
Meine Pestalozzi-Feier.
In: Schulreform, Bern, Nr. 10, Februar.
In seiner Schrift „Über Kriminalgesetzgebung“ äussert sich Pestalozzi unter anderem: „Im Waisenhaus tritt an den Platz der natürlichen Anhänglichkeit, der Lokalkenntnisse und Hausbrauchübung eine künstliche Führung; eine künstliche Ordnung verändert den Geist und die Fertigkeiten der Naturordnung, in welcher der gemeine Mensch in seiner Hütte gebildet wird. Steife Abmessung der Zeit und Tat, Verminderung des Gefühls der Haus- und Notbedürfnisse, welche die Kräfte des gemeinen Mannes so trefflich für ihn entwickeln, mechanische Fertigkeiten, Kunstübung ohne Kunstliebe, Tätigkeit ohne eigenen Willen, ohne Bedürfnisse und ohne nahe Endzwecke e.t.c. ist Geist der Schule, die das Waisenhaus in öffentlichen Anstalten bildet. Die allzusteife Ordnung, die wesentlich in allen grösseren Anstalten herrschen muss, hemmt den Geist des Menschen.“ – Und weiterhin: „Es ist unter zehn Menschen immer kaum einer, der nicht für sein ganzes Leben Schaden nimmt, wenn in seiner Auferziehung und Entwicklung des freien, selbstsuchenden und biegsamen häuslichen Sinnes vernachlässigt werden. Es ist deshalb die Hausauferziehung des gemeinen Menschen für die ersten Bedürfnisse seines Lebens ein fast unersetzliches Ding“.
Diese goldenen Pestalozzi-Worte werden mit anderen der bernischen Lehrerschaft zum 17. Februar 1927 von der bernischen Direktion des Unterrichtswesens gewidmet.
Als ich vor nun zweieinhalb Jahren meine Schriften über das „Anstaltsleben“ und die gleich darauffolgende, notwendige Ergänzung „Ich schweige nicht !“ veröffentlichte, in denen ich im wesentlichen lediglich , es belegend wiederholte, was Pestalozzi hier sagt, da fanden sich fromme, staatlich abgestempelte Erzieher und Erziehungsbeamte, welt- und volksfremde Zeitungsschreiber, die die Stirne hatten, im Namen Pestalozzis ins Feld zu ziehen.
Es gab auch welche, wie Herr Regierungsrat Burren in Bern, Herr Felix Moeschlin in Basel, die mich aufforderten, die Erziehungsanstalten, in denen die von mir bekämpften Übelstände vorkämen, öffentlich zu nennen, wie auch die Anstaltserziehungsschuster, die sich die von mir gerügten Erziehungsentgleisungen zu Schulden kommen liessen.
Man wollte damals wohl geflissentlich nicht verstehen, dass es mir, ebenso wenig wie heute, daran gelegen sein konnte, einzelne Anstalten, einzelne Fehlbare an den Pranger zu stellen, sondern dass es mir einzig um eine allgemeine, durchgehende Veredelung der Anstaltserziehung als solcher zu tun sein musste.
Herr Moeschlin war sogar naiv genug anzunehmen und es öffentlich auszusprechen, ich hätte für meine, auch für meine weitgehendsten Behauptungen, keine tatsächlichen Beweise zur Verfügung.
Seither sind nun mehr als zwei Jahre verflossen. Ich hatte mehr gehofft als wirklich erwartet, es würde inzwischen in der Angelegenheit der Verbesserung unserer Anstaltserziehung, wenn auch nicht etwas Entscheidendes geschehen, so doch ernsthaft angebahnt werden.
Statt dessen werden wir nun seit reichlich einem halben Jahr mit dickleibigen Neuerscheinungen über Pestalozzi, mit Ankündigungen weihevoller Pestalozzifeiern heimgesucht.
Inzwischen harrren 13000 schweizerische Anstaltskinder auf Erlösung von Anstaltserziehungsschrecken, Anstaltserziehungswidersinn.
Wird man mir es da verübeln, wenn ich erkläre, dass ich unter diesen Umständen den ganzen Pestalozzirummel als eine hässlich feige Heuchelei empfinde ?
Je nun : -zu den schon längst aufgespeicherten Belegen meiner Feststellungen über das Anstaltswesen, habe ich in den letzten Jahren noch eine Fülle neuer hinzu gekriegt. War ich schon damals, so bin ich heute noch besser in der Lage nachzuweisen, dass, von löblichen Ausnahmen abgesehen, die „scheusslichen Heimlichkeiten“, die ich namhaft machte, auch zur Stunde und zwar in Anstalten fortbestehen, die den Herren, die mich damals am bittersten befehdeten, die mich, wie etwa Herr Regierungsrat Burren, darob kurzerhand der Verleumdung beschuldigten, zum Teil sehr, sehr nahe stehen.
Ich habe mich nun überzeugt, dass, um unsere Erziehungsanstalten dahin zu führen, wo sie die Einsicht, die Menschlichkeit die Amtspflicht ihrer Behörden selbsttätig hätten führen sollen, es notwendig sein wird, Anstalten, Vorkommnisse und Namen schonungslos zu nennen.
Ich bin entschlossen es zu tun und überzeugt, dass mir Pestalozzis Manen beifällig zulächeln werden.
Das sei meine Pestalozzifeier !