„Im verderbtesten Staat gibt es die meisten Gesetze“, stellte schon Tacitus (Annalen III/27) im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung fest. In gleichem Sinne äussert sich Christoph Lehmann in seinem „Politischen Blumengarten“ (1662), wenn er sagt: „Eim newen Gesetz folgt newer Betrug“. Auch Ludwig Börns (1786 bis 1837 erklärt: „Hätte die Natur so viel Gesetze wie der Staat, Gott selbst könnte sie nicht regieren.“ Die besten Köpfe aller Zeiten stimmen diesen Auffassungen bei, gestützt auf Beobachtung, Erfahrung und folgerichtiges Denken. Es ist nun einmal unbestreitbar, weil durch die Geschichte immer wieder erhärtet, dass mit der Vielheit und Mannigfaltigkeit der Gesetze die Kriminalität in gleichem Verhältnisse zunimmt. Allein schon deshalb, weil der bekannte, aber an sich recht problematische Rechtsgrundsatz, es schütze die Unkenntnis des Gesetzes nicht vor dessen Folgen, durch jede Gesetzesinflation zu immer grösseren Unbilligkeiten führt. Dies besonders, wenn kasuistisch statt grundsätzlich oder gar notrechtlich, ja gelegentlich sogar rückwirkend, also verfassungswidrig, legiferiert wird und es sich praktisch als rein unmöglich erweist, sämtliche Gesetzes- und Dekretserlasse jedermann in gemeinverständlicher Fassung bekanntzugeben !
Es liegt auf der Hand, dass das Grundgesetz eines Staates, seine Verfassung also, wenn sie sich als wirklich tauglich und haltbar bewähren soll, grundlegend unverrückbare Rechts n o r m e n bieten muss, die jedermann einleuchtend und allen verständlich sind. Es darf daher, um der allgemeinen Rechtssicherheit willen, an einer wohlverstandenen Staatsverfassung nicht ständig herumgeflickt, noch darf sie, je nach zeitbedingtem Bedarf, zu viel ergänzt oder vermindert werden.
In dieser Hinsicht ist die Verfassung der Vereinigten Staaten Nord- Amerikas von 1787 auch heute noch vorbildlich. Sie umfasst bloss sieben Artikel, die in den Jahren 1791, 1798 und 1868 um weitere sieben Artikel erweitert wurden. Dagegen hat u n s e r e revidierte Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 bis zum 1. Juni 1948 nicht weniger als 44 Abänderungen erlitten, die, wäre sie nicht kasuistisch, sondern grundsätzlich und umfassenden Sinnes abgefasst gewesen, fast alle in den Bereich der ordentlichen Bundesgesetzgebung gefallen wären. Heute ist unsere Bundesverfassung ein nachgerade unübersichtlich gewordenes, das natürliche Rechtsbewusstsein des Volkes und insbesondere auch dasjenige seiner Behörden verwirrendes Flickwerk, das namentlich von den letztern längst nicht mehr ernst genommen und beachtet, sondern nach Augenblicksbedarf entweder angerufen oder übertreten wird. Dies obwohl sich die Behörden bei ihrem Amtsantritt einzeln und eidlich zur Wahrung der Unantastbarkeit der Verfassung verpflichten. Die Labilität der Anwendung verfassungsmässiger Bestimmungen des Bundes zieht zwangsläufig die der kantonalen Verfassungen nach sich, unbeschadet der ununterbrochen schaffenden, sechsundzwanzigfachen , Gesetzesfabriken des Bundes, der Kantone und Halbkantone. Wenn nun diese an sich schon bedenkliche Sachlage durch eingestandenermassen verfassungswidriges Notrecht, wie es die beiden letzten Weltkriege zeitigten, verschärft durch eine ebenso verfassungswidrige departementale Strafjustizpflege noch verschlimmert wird, so ist der ebenso häufig als bitter beklagte Rechtszerfall nicht mehr verwunderlich. Um so weniger, als sich die verfassungswidrige Rechtspflege oft nicht anders als vermittelst formaljuristischer Spitzfindigkeiten zu behaupten vermag und sich gelegentlich empörend und unbillig auswirkt. Das Volk, dessen ursprünglich durchaus gesundes, aber ebenso empfindliches Rechtsbewusstsein verwirrt wird, weil seine Behörden seine elementaren, verfassungsmässigen Rechtsbegriffe verabschiedet haben, hält sich – darin seiner Auffassung der berechtigten Notwehr folgend – auch seinerseits nicht mehr zu Verfassungs- und Gesetzestreue verpflichtet, sondern sucht je länger desto mehr die ihm gestellten juristischen Fussangeln, Fangeisen und Wolfsgruben zu umgehen. Dies auch deshalb, weil es längst aus vielfacher Erfahrung weiss, dass von der in der Verfassung garantierten Rechtsgleichheit aller Bürger vor dem Gesetz praktisch vielfach keine Rede mehr sein kann. Es dürfte zurzeit kein handlungsfähiger Schweizerbürger leben, der sich, absichtlich oder unabsichtlich, bewusst oder unbewusst, nicht schon gegen irgendeine der unzähligen, sich oft gegenseitig widersprechenden Notrechtsverordnungen irgendwie vergangen hätte ! Wird dazu noch in Betracht gezogen, mit welcher Lebensfremdheit oder offensichtlichen Willkür sie gelegentlich angewandt werden, so wird man sich zwar nicht mehr über Rechtszerfall und Rechtsverwilderung, wohl aber darüber höchlich verwundern, dass die Kriminalität unseres Volkes nicht noch mehr, sowohl quantitativ als qualitativ, zugenommen hat.
Das hindert jedoch nicht, dass die Rechtsverdrossenheit, die sich nicht immer in paragraphenmässig erfassbaren Übertretungen oder Vergehen, wohl aber gesinnungsmässig äussert, sich in stets beklemmenderem Masse vertieft. Wird doch an jedem Familien-, an jedem Wirtshaustisch, bei jeder Versammlung zweier oder mehrerer Personen sowohl über unsere gerichtliche als über die administrative Rechtspflege weidlich eindeutig geschimpft. Dabei ist nicht zu übersehen, dass solches vor Kindern und Jugendlichen in oft sehr drastischer Weise geschieht, dass infolgedessen das Rechts- und Verantwortungsbewusstsein unseres Nachwuchses dem positiven Recht gegenüber zunehmend unterhöhlt wird, schliesslich gar vernichtet werden kann. Wer Gelegenheit hat, sich darüber ernsthaft mit an sich durchaus nicht übel gearteten Jungen zu unterhalten, wird nicht ohne Besorgnis feststellen, wie tief sich bei ihnen Rechts- und Gesetzesverachtung bereits eingefressen haben. Er wird sich höchstens wundern und beglückwünschen, dass ihre Kriminalität nicht viel grösser geworden ist, als dies heute noch festgestellt werden darf. Es wäre jedoch durchaus abwegig, sich dessen noch lange zu vertrösten; denn das Übel verbreitet sich, einer gefährlichen Seuche gleich, unter der scheinbar gesunden Oberfläche stets weiter, so dass es sich als äusserst dringlich erweist, die Verfassungs- und Gesetzestreue , und zwar von o b e n her, unverzüglich wieder herzustellen.
1949