1908
Die Politik der Intellektuellen.
In der: Berner Tagwacht, Bern, Nr. 163, 16.7.
Es ist begreiflich und bis auf einen gewissen Punkt entschuldbar, dass es Leute gibt, welche sich nicht um Politik kümmern mögen und sie denen überlassen, welchen sie Sache der Neigung und oft des innern oder äussern Berufes ist. Begreiflich ist das bei vielen, entschuldbar nur bei seltenen Ausnahmen. Bei einer kleinen Zahl auserwählter Intellektueller, welche auf ihrem Spezialgebiete so Hervorragendes leisten, dass jede Nebenbeschäftigung, auch mit Politik, einen Verlust für die Menschheit bedeuten würde. Deren Veranlagung sie befähigt, der Menschheit auf einem Sondergebiete so aussergewöhnliche Dienste zu leisten und sie zu fördern, dass es ein Verbrechen wäre, ein Verlust an der Förderung der Allgemeinheit, wollte man sie der Politik dienstbar machen. Aber das sind seltene Ausnahmen, das gilt nur für Koryphäen. So nützlich sich beispielsweise ein Kocher im Nationalrat, oder ein Zeppelin in den gesetzgebenden Behörden seines Landes, oder ein Curie in der Deputiertenkammer hätte machen können, so bin ich doch der Meinung, dass es für die Allgemeinheit ein Glück war, dass sich der erste seiner Chirurgie, der zweite der Aeronautik und der dritte seinen physikalischen Forschungen ohne Unterbruch widmeten – die Menschheit in ihrer Allgemeinheit ist durch die Sondertätigkeit dieser Männer weiter gebracht worden, als wenn sie eine Rolle im sogenannten öffentlichen Leben gespielt hätten. Aber das sind Ausnahmen und : quod licet Jovi, non licet bovi – was dem Zeus gestattet ist, darf sich der Ochse nicht erlauben.
Im allgemeinen nämlich empfinden wir es als einen schweren Schaden, dass gerade die Vertreter der Gelehrten- und Künstlerwelt die Politik als etwas ausser ihnen Stehendes betrachten und sich nicht darum kümmern. Vermeinen, sich etwas zu vergeben, indem sie in die Arena der politischen Tätigkeit heruntersteigen und Lanzen brechen für Tagesfragen, sie, – sie, die für die Ewigkeit zu schaffen wähnen. Der Schaden dieser Ausschliesslichkeit ist doppelt: einmal ist die Politik das Gebiet, auf welchem alle Regungen der Volksseele und der Volksintelligenz ausmünden und sich zu praktisch brauchbaren Werten gestalten. Eine Wissenschaft, eine Kunst, eine intellektuelle Errungenschaft taugt so lange nichts und bleibt so lange steril, bis sie Gemeingut geworden ist. Und so sehen wir denn gar oft das betrübende Schauspiel, dass unsere Berufspolitiker sich in der besten Meinung der Welt und mit den edelsten Absichten mit Fragen herumschlagen und sie schliesslich, so gut es eben geht, lösen – ohne dass sie innerlich deren Kern näher treten konnten. Gar oft müssen sie gestehen: ignoramus, wir wissen nichts, aber wir entscheiden ! Daraus kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, denn man kann schlechterdings vom politisierenden Rechtsanwalt oder Industriellen oder Kauf- , Handwerksmann oder Arbeiter nicht verlangen, dass er auf allen Gebieten zu Hause sei und für alle Lebensfragen das richtige Augenmass habe.
Es wäre mir ein leichtes nachzuweisen, an Hand von Tatsachen und Daten, wie schon so oft in Fragen der Kunst und der Wissenschaft von unsern Behörden Entscheidungen gefällt wurden, welche der guten Sache selbst direkt Hohn sprachen. Wo sie in besten Treuen die kapitalsten Böcke schossen ! Weil niemand unter ihnen war, der mit der Materie genügend vertraut gewesen wäre, sie eines Bessern zu belehren.
In solchen Fällen haben dann noch immer die Vertreter der Künstler- und Gelehrtenrepublik gar mörderlich geschimpft, über den Unverstand – ja, den bösen Willen der Behörden. Oft, wohl in den meisten Fällen sogar, zu Unrecht.
Die Folge für die Allgemeinheit ist, dass auf diese Weise das Volk in Fragen des Geschmackes verdorben und um die Früchte einer höheren Erkenntnis geprellt wird. Die Arbeit der Künstler und Gelehrten wird dadurch unfruchtbar. Und das ist vor allen Dingen auch ein Nachteil für die Künstler und Gelehrten, welche dadurch zur Bedeutungslosigkeit und Abgeschlossenheit verurteilt und ausserhalb des Volkes gesetzt werden. Und ich könnte nicht behaupten, dass dies gerade eine splendis isolation, eine glänzende Abgeschlossenheit wäre. Jedenfalls ist sie für beide Teile höchst unprofitabel.
Denn die öffentliche Betätigung der Künstler und Gelehrten in der Politik würde diese selbst qualitativ heben, es würde ein neuer, reinerer, idealerer Zug hineinkommen, an Stelle der jetzt so begreiflichen Zusammenrottung oft mittelmässiger Parteiansichten würden kompetentere Urteile alllgemeineren und höheren Wertes mit der Zeit ausschlaggebend werden, und im Namen der gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft, im Namen der Befreiung von der so begreiflichen Mittelmässigkeit der Masse der Durchschnittspolitiker darf verlangt werden, dass jene leute sich dem öffentlichen Leben nicht entziehen. Man erniedrigt sich nicht, wenn man sein Wissen und Können überall, wo es nur angeht, in den Dienst der Gesellschaft stellt. Wir sind moralisch geradezu verpflichtet, es zu tun, denn wir tragen damit eine Schuld an die Gesellschaft ab, welcher wir im letzten Grunde die Vorbedingungen unseres Wissens und Könnens verdanken. Wissenschaft und Kunst seien demokratisch im weitesten Sinne, anders wir nichts damit anzufangen wissen ! Eine Geistesaris-
tokratie, welche sich vom pulsierenden Leben des Alltags geflissentlich fern hält, ist nicht weniger faul und nicht weniger schädlich, als irgendeine andere privilegierte Klasse, welche an der Allgemeinheit Mark als schnöder Parasit sich mästet.
Das lässt sich nachweisen. Man stelle einmal Deutschland Frankreich oder England gegenüber, und es wird jedem gleich einleuchten, dass die Forderung, welche wir stellen, ganz gerechtfertigt ist. Während in Deutschland die Gelehrtenwelt sich ängstlich vor der politischen Aktion hütet und sich auf das spezialisiert, was sie „ihr eigentliches Gebiet“ nennt, bestehen die französischen und englischen Politiker zum nicht geringen Teil aus Gelehrten und Künstlern. Dafür ist Deutschland im Laufe eines Menschenlebens zum internationalen Horte der Reaktion geworden, während Frankreich, das sich gelegentlich einen Chemieprofessor als Minister des Auswärtigen, oder England einen Philosophen oder Physiker zu Staatssekretären leistet, voran sind und dem Fortschritt neue Wege bahnen. Es ist nicht von ungefähr, dass die menschheitsbefreienden Ideen in Paris und die technischen Pionierarbeiten in London ihren Ausgangspunkt seit Jahrhunderten hatten und noch haben. Es ist nicht von ungefähr, dass Deutschland Skandalprozess über Skandalprozess erlebt und sich daran moralisch erwürgt, während in Frankreich alles in der breitesten Öffentlichkeit durchgehechelt, die schmutzige Wäsche vor aller Welt ausgebreitet – aber gereinigt wird. Eine Sanierung Deutschlands, wie sie moralisch Frankreich nach einer seiner schwersten Krisen, dem Dreyfushandel, welchem die Separation entsprang, durchmachte, ist nicht darum möglich, weil das Rechtsbewusstsein des deutschen Volkes geringer als das des französischen ist. Aber Deutschland hat keine Zola, keine France, Coppée, Brunetière, welche im Augenblick der Not aus ihrer stillen Gelehrtenstube hervortreten und einen politischen Strauss gegeneinander ausfechten, sich schlagen und besiegen, und so der Entwicklung als Winkelriede des Geistes neue Bahnen erschliessen. Darum weiss man in Frankreich nichts von der Einschränkung der Lehrfreiheit und der Einengung der Wissenschaft und der Künste, die in Deutschland an der Tagesordnung ist, in einem Masse, dass ein bornierter Kultusminister wissenschaftlichen Autoritäten geradezu verbieten kann, Ergebnisse ihrer Forschungen den Studierenden mitzuteilen , wenn ihm diese Ergebnisse nicht in den Kram passen.
Und das erklärt auch, warum in Deutschland sich eine Drohnenkaste, die der Offiziere und Beamten, gesellschaftlich empormästen konnte und höhere Wertschätzung geniesst, als der verdiente Gelehrte, der bahnbrechende Künstler, der epochemachende Techniker, der neue Welten erschliessende Kaufmann – mit einem Worte, der geniale, das Volk bereichernde Produzent.
Und diese Missachtung der Mehrer zugunsten der Zehrer, wie sie in Deutschland üblich und in der Schweiz akut ist, haben sich die ersteren selbst geschaffen und haben so lange kein Recht, sich darüber zu beklagen, bis sie sich selbst die politische Geltung verschaffen, welche ihnen von Rechts wegen zukommt.